Die Genehmigungsfiktion konnte – nach bis zum 26.05.2020 ständiger Rechtsprechung – jedem Patienten Vorteile bringen, insbesondere auch solchen, die wirtschaftlich nicht in der Lage waren, kostenintensive Hilfsmittel vorzufinanzieren. Im Übrigen konnte sich die Kasse nicht leicht von der eingetretenen Genehmigungsfiktion lösen; mit beidem hat der zuständige 1. Senat nun gebrochen.
Hintergrund
Der Gesetzgeber hat zum 26.02.2013 mit dem Patientenrechtegesetz (Langtitel: „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“) § 13 Abs. 3a SGB V eingefügt. Die Gesetzesänderung sollte dem entgegenwirken, dass gesetzliche Krankenkassen Entscheidungen über die Bewilligung von Leistungen lange aufschieben und Versicherte deswegen zunächst nicht an benötigte Hilfsmittel gelangen. Denn Grundsatz der gesetzlichen Krankenversicherung ist das Sachleistungsprinzip. Das Sachleistungsprinzip bedeutet, dass die Krankenkasse dem Versicherten grundsätzlich kein Geld für selbst beschaffte Leistungen erstattet, sondern der Versicherte Anspruch darauf hat, Dienstleistungen und Sachleistungen zu erhalten. Das macht die Krankenkasse natürlich nicht selber, sondern schließt (ggf. über Verbände und Einrichtungen) Verträge mit Ärzten, Krankenhäusern und anderen Leistungserbringern. Bei Antragsleistungen muss auch zwingend zuvor ein Antrag gestellt werden. Wird dieser Beschaffungsweg nicht eingehalten, hat der Versicherte keinen Anspruch; auch nicht auf Erstattung der Kosten.
Dies konnte mitunter lange dauern, weswegen sich der Gesetzgeber veranlasst sah, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, um dieses Problem zu unterbinden.
Gesetzliche Regelung des § 13 Abs. 3a SGB V
§ 13 Abs. 3a SGB V sieht vor, dass eine Krankenkasse über einen Leistungsanspruch eines Versicherten zügig zu entscheiden hat. Zügig im Sinne der Regelung meint, dass eine Entscheidung innerhalb von 3 Wochen nach Zugang des Antrages bei der Kasse dem Versicherten zugestellt werden muss (§ 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V). Wird der MDK eingeschaltet (was dem Versicherten innerhalb der Frist mitgeteilt werden muss), dann verlängert sich die Frist auf 5 Wochen.
Das bedeutet, sobald der Antrag im Briefkasten der Krankenkasse liegt oder von dem dortigen Fax ausgedruckt wurde, tickt die Uhr zu Gunsten des Versicherten. Maßgeblich ist, ob eine Entscheidung über den Antrag (Bescheid) innerhalb der Frist bei dem Versicherten eingeht.
Überschreitet die Krankenkasse die Frist – uns sei es nur um einen Tag –, dann gilt die beantragte Leistung als vollumfänglich genehmigt (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V). Weiter schreibt der Gesetzgeber vor, dass Versicherte, die sich die Leistung selber beschaffen, einen Anspruch auf Kostenerstattung haben (§ 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V). Der Gesetzgeber nimmt für diesen Sonderfall also eine Abweichung vom Sachleistungsprinzip und dem vorgeschriebenen Beschaffungsweg in Kauf.
Bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
Exkurs
Die Gerichtsbarkeit der Sozialgerichte ist – ähnlich wie die meisten anderen Gerichtsbarkeiten – dreistufig aufgebaut. Lokal gibt es Sozialgerichte, die in erster Instanz über Klagen von Versicherten entscheiden. Von den Sozialgerichten gibt es bundesweit 68 (Wikipedia). Ist der Versicherte oder die Krankenkasse mit der Gerichtsentscheidung nicht einverstanden, kann gegen die Entscheidung Berufung eingelegt werden. Diese wird dann von dem Landessozialgericht entschieden, davon gibt es maximal eines je Bundesland, die Bundesländer Bremen (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen) und Berlin (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg) haben jedoch keines. Es gibt daher 14 Landessozialgerichte (Wikipedia). Unter bestimmten Geschichten kann der Versicherte oder die Krankenkasse – sofern sie mit der Entscheidung immer noch nicht einverstanden ist – Revision einlegen. Alle Revisionen in dieser Konstellation werden von dem Bundessozialgericht in Kassel entschieden und dort vom 1. Senat. Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts sind endgültig, das Bundessozialgericht ist das höchste Gericht im Rahmen der Sozialgerichtsbarkeit.
Die Rechtsprechung der Sozialgerichte war anfangs nicht einheitlich, überwiegend aber sehr patientenfreundlich. Die Sozialgerichte haben – gemäß der Intention, die der Gesetzgeber hatte – den Versicherten alles mögliche aufgrund versäumter Fristen zugesprochen (etwa Cannabis; vgl. SG Dortmund, Urteil vom 22.01.2016 – S 8 KR 435/14; allerdings aufgehoben durch das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.04.2018 – L 5 KR 140/16).
Der grundsätzlich patientenfreundlichen Rechtsprechung hat sich auch schließlich auch das Bundessozialgericht angeschlossen. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts war die Formulierung im Gesetz „gilt die Leistung als genehmigt“ (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) so auszulegen, dass das Nichtentscheiden der Krankenkasse dieselben Auswirkungen hat, als hätte die Krankenkasse positiv die Leistung bewilligt, etwa durch einen bewilligenden Bescheid.
Dies hatte insbesondere zwei wichtige Auswirkungen:
- Die Krankenkasse konnte – auch durch einen negativen Verwaltungsakt – nicht einfach die Folgen des Fristversäumnisses umgehen. Auch, wenn die Krankenkasse im Verlauf die Leistung ablehnt, konnte der Versicherte die Leistung weiterhin durchsetzen.
- Versicherte konnten auch auf dem Wege des Sachleistungsprinzips die Leistung verlangen. Das bedeutet, DiabetikerInnen mussten nicht zwingend eine Insulinpumpe mit rund 3.000 Euro vorfinanzieren, sondern konnte auf Versorgung mit dem Hilfsmittel klagen.
In der bisherigen Rechtsprechung war der 1. Senat sehr strikt und verfolgte den obigen Weg strikt zu Gunsten der Versicherten weiter. Diese Entscheidungen waren im Wesentlichen auch unumstritten, auch, wenn die Krankenkassen unter dem Zeitdruck ächzten. Mit Ausnahme in der Anfangsphase haben die Krankenkassen aber überwiegend Wege gefunden, den Zeitdruck zu managen, auch wenn dies teilweise dazu führte, dass Anträge erst einmal pauschal abgelehnt wurden.
Was ist mit dem 1. Senat passiert?
Es ist mit Nichten so, dass der 1. Senat plötzlich erwachte und seine eigene Rechtsprechung kritisch sah. Vielmehr ist der bisherige Vorsitzende Richter des Senats (Exkurs: Beim Bundessozialgericht entscheiden über alle Verfahren 5 Richter, 1 Vorsitzender Richter (Berufsrichter), zwei Beisitzer (Berufsrichter, einer davon Berichterstatter) und zwei ehrenamtliche Richter (keine Juristen)) zum 31.12.2019 aus Altersgründen in den Ruhestand gegangen. Den neuen Vorsitz übernahm der Präsident des Bundessozialgerichts. Die Rechtsprechung des 1. Senats war seit Jahren hoch umstritten und führte zu diversen Gesetzesinitiativen (insbesondere im Bereich der Krankenhausvergütung), was zur Folge hatte, dass neben dem Vorsitzenden auch noch andere Richterstellen umbesetzt wurden.
Neue Rechtsprechung des 1. Senats
Das Bundessozialgericht hat die bisherige Rechtsprechung nun (teilweise) aufgegeben. Das Aufgeben der Rechtsprechung bedeutet, dass das Gericht erklärt, seine eigene Rechtsprechung aus früheren Zeiten für falsch zu halten und diese nicht mehr anzuwenden. Der Schritt kam gerade in diesem Bereich aus heiterem Himmel, denn die Rechtsprechung war kaum umstritten und war – zumindest augenscheinlich – auch so von dem Gesetzgeber beabsichtigt.
Hinweis / Disclaimer
Die schriftlichen Urteilsgründe liegen noch nicht vor, lediglich die Pressemitteilung des Gerichts und der Terminsbericht.
Das Gericht hat entschieden, dass die Rechtsprechung des Senats zum Sachleistungsanspruch aufgegeben wird. Nach Auffassung des Gerichts begründet die Genehmigungsfiktion keinen eigenständigen Sachleistungsanspruch. Das bedeutet, dass eine kurze Fristüberschreitung für Krankenkassen folgenlos bleiben wird. Darüber hinaus bleiben Fristüberschreitungen von Krankenkassen bei teuren Hilfsmitteln und bei Personen mit geringer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit überwiegend folgenlos. Denn man wird künftig nicht mehr auf Bewilligung etwa einer Insulinpumpe auf dem Wege des Sachleistungsanspruches gegen die Krankenkasse klagen können, sofern der Anspruch nur mit der Genehmigungsfiktion begründet wird. Bereits erhobene Klagen dürften – vorbehaltlich der schriftlichen Urteilsgründe – abzuweisen sein. Anders ist dies, wenn man sich die Leistung selber beschafft und die Krankenkasse auf Kostenerstattung verklagt. Teure Hilfsmittel (eine Insulinpumpe kann rund 3.000 Euro kosten), können aber nicht alle Versicherten vorfinanzieren, diese werden möglicherweise auf der Strecke bleiben. Das Bundessozialgericht begründet dies damit, dass Versicherte (nur) eine (vorläufige) Rechtsposition erhalten, wonach sie sich zum Eigenschutz unter Missachtung des Beschaffungsweges die Leistung selber beschaffen dürfen. Dies gelte (weiterhin) auch dann, wenn der Versicherte eigentlich keinen Anspruch auf die Leistung hätte, die Krankenkasse aber die Frist versäumt hat.
Im Übrigen gibt das Gericht die bisherige Rechtsprechung auf, dass die Genehmigungsfiktion dieselbe Wirkung wir ein echter Bescheid hat, also die Krankenkasse nur unter den hohen Voraussetzungen von Widerruf und Rücknahme die Folgen beseitigen kann. Diese hohen Hürden lagen in keinem der früheren Fälle vor. Nunmehr hat das Bundessozialgericht entschieden, dass das Fristversäumnis nicht dieselben Wirkungen hat, wie ein echter Bescheid. Vielmehr erhält der Versicherte nur eine vorläufige Rechtsposition soweit und solange er gutgläubig ist, also glaubte und glauben durfte, dass ihm die beantragte Leistung zusteht. Weiß der Versicherte, dass er keinen Anspruch hat, hat er auch keine positiven Folgen aus dem Fristversäumnis der Krankenkasse. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Krankenkasse die Leistung ablehnt. Ein ablehnender Bescheid der nach Fristüberschreitung erfolgt reicht also aus, um die Folgen der Genehmigungsfiktion aus der Welt zu schaffen. Die Voraussetzungen von Rücknahme und Widerruf müssen also nicht erfüllt sein. Das Bundessozialgericht geht sogar noch einen Schritt weiter und führt aus, dass das Antragsverfahren mit Fristüberschreitung nicht abgeschlossen ist und die Krankenkasse berechtigt und verpflichtet ist, einen Verwaltungsakt zu erlassen.
Sobald die negative Entscheidung dem Versicherten zugeht (einwerfen in den Briefkasten reicht), hat er positive Kenntnis darüber, dass er keinen Anspruch hat, weswegen die Folgen der Genehmigungsfiktion vollständig beseitigt sind. Ein Sachleistungsanspruch bestand nach neuer Rechtsprechung sowieso nicht, ein Kostenerstattungsanspruch entfällt ab dann. Nur, wenn der Erwerb des Hilfsmittels auf eigene Kosten vorher erfolgte, verbleibt es bei dem Kostenerstattungsanspruch.
Bestätigung durch 3. Senat
Der ebenfalls zuständige 3. Senat hat sich in der mündlichen Verhandlung am 18.6.2020 der Entscheidung des 1. Senats angeschlossen; die Pressemitteilung ließt sich quasi wortlautidentisch (vgl. BSG, Urteile vom 18.6.2020 – B 3 KR 14/18 R; B 3 KR 6/19 R; B 3 KR 13/19 R).
Verfassungsbeschwerde Sozialverband VdK
Der Sozialverband VdK hat die Entscheidungen scharf kritisiert und eine Verfassungsbeschwerde angekündigt:
„Wir bedauern es, dass der Erste Kasseler Senat den Krankenkassen einen Blankoscheck für langsames Arbeiten ausstellt. Das Urteil benachteiligt einseitig die gesetzlich Versicherten. Für uns ist das Gleichheitsgebot verletzt. Wir werden Verfassungsbeschwerde erheben.“
Verena Bentele (VdK-Präsidentin)
Bewertung
Die Entscheidung ist bedauerlich. Denn die bisherige Rechtsprechung hat Versicherten eine klare Richtschnur und Rechtssicherheit verschafft. So war nach Ablauf der maßgeblichen Frist eine verbindliche und nur in engen Ausnahmefällen revisible Entscheidung getroffen. Außerdem konnten sowohl solche Versicherten profitieren, die sich die Vorfinanzierung der Leistungen nicht leisten konnten. Damit bricht das Bundessozialgericht nun ohne Not. Auch für solche Versicherten, die sich grundsätzlich das Vorfinanzieren von Hilfsmitteln leisten können erschwert die Entscheidung die Rechtsdurchsetzung, denn sie gehen mit der Vorfinanzierung der Leistung das Risiko ein, auf den Kosten sitzen zu bleiben, nämlich, wenn aus welchen Gründen auch immer die Genehmigungsfiktion nicht eingetreten war. Bisher bestand die Möglichkeit, den Anspruch auch nach dem Sachleistungsprinzip und damit im Wesentlichen risikolos durchzusetzen. Im Übrigen gehen die Krankenkassen bei kürzeren Fristversäumnissen kein Risiko mehr ein, denn wenn die Krankenkassen (negativ) entscheiden, bevor der Versicherte sich die Leistung selbst beschafft hat (und die meisten Hilfsmittel werden nicht von jetzt auf gleich ausgeliefert), dann können die Folgen durch eine negative Entscheidung abgewendet werden.
Man muss aber konstatieren, dass sich beide zuständigen Senate derselben Rechtsauffassung angeschlossen haben. Das bedeutet, dass die Instanzenrechtsprechung hier voraussichtlich nicht ausbrechen wird. Ebenfalls haben Revisionen zum Bundessozialgericht voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg.
Abzuwarten bleibt, was aus der Verfassungsbeschwerde wird.
Weitere Informationen
- Pressemitteilung des Bundessozialgerichts (1. Senat): https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/2020_10.html
- Terminsvorschau und ‑bericht des Bundessozialgerichts (1. Senat): https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2020/2020_05_26_B_01_KR_09_18_R.html
- Terminsvorschau und ‑bericht des Bundessozialgerichts (3. Senat): https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2020/2020_06_18_B_03_KR_06_19_R.html
- Verfassungsbeschwerde Sozialverband VdK: https://www.vdk.de/deutschland/pages/presse/presse-statement/79649/krankenkasse_kassenfrist_bundessozialgericht?dscc=essenc
- Blogbeitrag Patientenrechtegesetz mit Beispielen zur Fristberechnung: https://rechtsfragenblog.de/patientenrechtegesetz-selbstbeschaffung-bei-nicht-fristgemaesser-entscheidung/
- Blogbeitrag Entwicklung der Genehmigungsfiktion: https://rechtsfragenblog.de/die-genehmigungsfiktion-was-hat-sich-wie-entwickelt/
Jan hat deutsches und niederländisches Recht in Bremen, Oldenburg und Groningen studiert und ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in einer Kanzlei für Medizin- und Sozialrecht in Bochum. Außerdem hat er eine Zusatzausbildung im Datenschutz (Datenschutzbeauftragter DSB-TÜV) gemacht. Schon während seines Studiums engagierte er sich ehrenamtlich im Bereich Diabetes, insbesondere zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen, und hat die Selbsthilfeorganisation Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH‑M) e. V. mitbegründet und aufgebaut. Er engagiert sich zudem in der Stiftung Stichting Blue Diabetes.