In Social Media-Portalen wird im Rahmen der Selbsthilfe immer wieder kolportiert, man solle so lange Widerspruch einlegen und / oder Klagen, bis man einen GdB von 50 erhält.
Wahr daran ist, dass die Verwaltungsakten der zuständigen Behörden (zumeist Versorgungsämter) oft erschreckend schlecht geführt sind und den Sachverhalt teils nicht ansatzweise aufarbeiten (in einem Fall, den ich vor einiger Zeit hatte, wurde eine nicht-ärztliche Psychologin (psychologische Psychotherapeutin) beauftragt, den Diabetes zu bewerten, sie hat dann aber nur die somatischen Probleme bewertet und die psychologischen Probleme nicht, das geht natürlich nicht). Hier gibt es einen wichtigen Ansatzpunkt, wenn man die Bescheide angreifen möchte.
Es ist aber keineswegs so, dass jede*r und / oder jedes Kind einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 hätte. Grob hatte ich das vor längerer Zeit mal hier zusammengefasst: Unter welchen Voraussetzungen bekomme ich einen Schwerbehindertenausweis mit Diabetes Der Beitrag ist bereits etwas älter, ist aber weiterhin aktuell und richtig. Und ja, vom Grundsatz her gibt es bei der Bewertung der Einschränkungen von Erwachsenen und Kindern keine Unterschiede. Die anwendbaren Regeln sind – mit Ausnahme des Regelbeispiels zum Merkmal hilflos – identisch. Die Einschränkungen unterscheiden sich nur in der Sache. So ist ein*e Erwachsene*r sicherlich stark eingeschränkt, wenn kein Auto gefahren werden darf oder der begehrte Job unerreichbar scheint. Kinder tangiert das nicht, sie können aber vielleicht nicht rechnen und sind deswegen in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt.
Immer und ausnahmslos im Einzelfall ist für die Feststellung eines GdB von 50 zu prüfen, ob „eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durch[geführt wird], wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und [die Personen]durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein.“ (Hervorhebungen und Auslassungen durch den Autor). Wird eine derartige Schwere der Einschränkungen nicht erreicht ist bei Typ‑1 Diabetes zumeist ein GdB von 40 angemessen. Über den GdB von 50 hinaus geht meist wenig, allenfalls bei Komorbiditäten, Begleit- oder Folgeerkrankungen. Dabei ist aber zu beachten, die Einzel-GdBs werden nicht addiert, sondern es wird die funktionale Gesamtschwere betrachtet, also geschaut, welcher Gesamt-GdB die Einschränkungen am besten beschreibt. Dabei entfallen GdB ≤ 20 in aller Regel, während GdBs ≥ 30 in aller Regel erhöhend zu berücksichtigen sind. Das muss jedoch immer im Einzelfall betrachtet werden, dazu werden und andere Regelbeispiele der VersMedV berücksichtigt.
Sehr umfassend und geradezu schulmäßig hat sich in einem von mir geführten Verfahren das Sozialgericht Aachen mit der Thematik bei einem Kindergarten-/Schuldkind (bei Klageerhebung war das Kind im Kindergarten und bei der mündlichen Verhandlung Schulkind) beschäftigt. Die Entscheidung ist auch sehr lesenswert, um die Systematik zu verstehen. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat die Entscheidung inhaltlich und im Ergebnis auch gehalten. Die Entscheidung zeigt, wie wichtig es ist, sehr umfassend und kleinlich die Einschränkungen zu dokumentieren und im Streitfall darzulegen. Ich empfehle immer, diese sehr kleinlich aufzuschreiben, ggf. ist es auch anschaulich eine Art „Standardtag“ zu entwickeln, aus der sich geballt die Einschränkungen ergeben, die regelmäßig auftreten. Ihr müsst dabei beachten: Es gilt zwar der Amtsermittlungsgrundsatz (d. h. der/die Richter*in muss alles von Amts wegen ermitteln und erforschen), ihr dürft aber nicht vergessen, der/die Richter*in kennt Euch nicht persönlich und wohnt nicht mit Euch zusammen, das gilt entsprechend auch für Eure*n Rechtsanwalt*in. Es ist daher extrem wichtig, dass ihr die Einschränkungen nachhaltet und anschaulich aufarbeitet.
Das Sozialgericht Aachen kam zu folgenden Erwägungen, die sich teils auch generalisieren lassen:
„Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Feststellung eines GdB von 50 rechtfertigen.
Die Klägerin leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen unter einem insulinpflichtigen Typ-1-Diabetes (vgl. zu Definition und Therapie eines Typ1-Diabetes, S3-Leitlinie Therapie des Typ-1-Diabetes der Deutschen Diabetes Gesellschaft, 2. Aufl., Stand 28.03.2018, abrufbar auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) http://awmf.org unter der Registernummer 057–013; zur Ätiologie, Verlauf und Symptomen vgl. etwa Danne/Kordonouri/Lange, Diabetes bei Kindern und Jugendlichen, 7. Aufl. 2015, S 15 ff.; 159 ff.). Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigung steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte sowie des Gutachtens des Dr. […] fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen eines erfahrenen gerichtlichen Sachverständigen, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befund und der gestellten Diagnose zu zweifeln. Diese deckt sich mit den Feststellungen und Diagnosen der behandelnden Ärzte und ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig. Lediglich die sozialmedizinische Bewertung dieser Beeinträchtigungen und insbesondere die Höhe des GdB ist zwischen den Beteiligten bis zuletzt streitig geblieben.
Bis zum Inkrafttreten der Versorgungsmedizinsehen Grundsätze wurde hinsichtlich der Höhe des GdB beim Vorliegen eines Diabetes mellitus unterschieden zwischen Fällen eines Typ I und Fällen eines Typ II Diabetes. Ersterer rechtfertigte per se einen GdB von 40 und – für den Fall schwerer Einstellbarkeit, der häufig bei Kindern zu finden sei, mit gelegentlichen ausgeprägten Hypoglykämien – einen solchen von 50, vgl. Ziffer 26.15 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2008. Die entsprechende Unterscheidung ist freilich seit langem bereits aufgehoben.
Gemäß Teil B Ziffer 15.1 Versorgungsmedizinischen Grundsätze in der aktuellen Fassung der Fünften Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Versordnung (5. VersMedVÄndV) vom 11.10.2012 (BGBI. 1, S. 2122) gilt hinsichtlich der Beurteilung eine Zuckerkrankheit nunmehr Folgendes:
[…]
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier lnsulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise, Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50
Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.
Schon der Wortlaut der Norm macht deutlich, dass für die Annahme eines GdB von 50 drei Beurteilungskriterien erfüllt sein müssen. Es müssen (1.) täglich mindestens vier Insulininjektionen durchgeführt werden. Es muss darüber hinaus (2.) eine selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung erfolgen sowie (3.) eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte vorliegen. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu berücksichtigen, dass diese drei Kriterien in einer Gesamtschau die sachgerechte Beurteilung des Gesamtzustands erleichtern sollen (vgl. BSG Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R =juris Rn. 16 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 25.10.2012 – B 9 SB 2/12 R = juris Rn. 34). Auf den Diabetes-Typ kommt es hierbei nicht an.
Es steht zur Überzeugung der Kammer aufgrund der glaubhaften Angaben der Mutter der Klägerin im Verfahren sowie den von den Eltern der Klägerin im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingereichten Blutzuckertagebüchern fest, dass die Klägerin, beziehungsweise ihre Eltern, regelmäßig vier Mal am Tag den Blutzuckerspiegel messen. In Abhängigkeit von den hierbei ermittelten Werten wird Insulin gespritzt. Soweit sich an einzelnen Tagen in den Tagebüchern keine Eintragung einer Insulingabe findet, ist dies damit zu erklären, dass die Insulingaben zu den Mahlzeiten, die nach entsprechender Messung gegeben werden, hier regelmäßig nicht erfasst worden sind, sondern letztlich lediglich „außerplanmäßige“ Interventionen, wie eine entsprechende Nachfrage im Rahmen der mündlichen Verhandlung ergeben habt. Die Kammer geht daher nach den überzeugenden Darstellungen der Mutter der Klägerin davon aus, dass in aller Regel mindestens vier – meist mehr – bedarfsabhängige Insulingaben erfolgen. Im Übrigen wäre es aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich die Kammer vollumfänglich anschließt, auch unschädlich, wenn an einzelnen Tagen weniger als vier Mal gemessen würde (vgl. dazu BSG Urteil vom 25.10.2012 – B 9 SB 2/12 R =juris Rn. 35). Die oben benannten Voraussetzungen 1) und 2) sind damit zweifellos gegeben.
Es steht aber zur Überzeugung der Kammer auch fest, dass bei der Klägerin durch die Erkrankung die für die Annahme eines GdB von 50 erforderlichen, erheblichen Einschnitten mit gravierenden Beeinträchtigungen der Lebensführung vorliegen. Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass solche nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur unter strengen Voraussetzungen zu bejahen sind (vgl. BSG Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R = juris Rn. 21). Auch hierin folgt die Kammer der höchstrichterlichen Auslegung. Für sie spricht in der Tat die Formulierung in der Vorschrift, die eine für einen Normtext seltene Häufung einschränkender Merkmale („erheblich“, „gravierend“, „ausgeprägt“) enthält. Diese strenge Auslegung führt dazu, dass die mit der vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte grundsätzlich nicht geeignet sind, eine zusätzliche („und“) gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. Im vorliegenden Fall sind sie nach Auffassung der Kammer gleichwohl zu bejahen.
Zum einen sind insofern die vorhandenen Arztberichte und die Feststellungen des Gutachters Dr. […] zu berücksichtigen. So zeigen sich in den vorliegenden Ausdrucken aus dem Blutzuckertagebuch durchaus leichtere bis hin zu deutlichen Hypoglykämien mit Blutzuckerwerten von 39 mg/dl und 41 mg/dl an einzelnen Tagen, an anderen zwischen 40 mg/dl und 50 mg/dl. Hierbei handelt es sich um Werte, die auch nach Auffassung der Kammer zweifellos in den hypoglykämischen Bereich zu rechnen sind (vgl. zur Schwierigkeit der Bestimmung eines „Grenzwertes“ S3-Leitlinie Therapie des Typ-1-Diabetes der Deutschen Diabetes Gesellschaft, 2. Aufl., Stand 28.03.2018, S. 66; Hien/Böhm/ClaudiBöhm/Krämer/Kohlhaas, Diabetes Handbuch, 7. Aufl. 2013, S. 86, wonach der von der American Diabetes Association in Vorschlag gebrachte Wert von 70 mg/dl eher zu hoch gegriffen sein dürfte; Balteshofer/Claussen/Häring/et. al., Endokrinologie und Diabetes, 2009, S 154 [50 mg/dl]; Lentze/Schaub/Schulte/Spranger, Pädiatrie, 3. Aufl. 2007, S 340 [50 mg/dl] Götsch [Hrsg.], Allgemeine und spezielle Krankheitslehre, 2. Aufl. 2011, S. 360 [(40 mg/dl]; allgemein zur Hypoglykämie vgl. Siegenthaler/Blum [Hrsg.], Klinische Pathophysiologie, 9. Aufl. 2006, S. 95). Bislang konnten freilich, insbesondere dank der Aufmerksamkeit der Eltern der Klägerin durch Interventionen – durch Gabe von (flüssigem) Traubenzucker (so die Mutter der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung) oder sonstigen Maßnahmen wesentliche Auswirkungen der Unterzuckerung vermieden werdenkonnten. Es sind bislang keine akut notwendigen Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte wegen eines hypoglykämischen Schocks objektiviert. Diese Tatsache ist bei der Frage nach der Höhe des GdB durchaus zu berücksichtigen (vgl. dazu SG Aachen Urteil vom 27.10.2015 – S 12 SB 272/15 = juris, bestätigt durch LSG NRW Urteil vom 09.06.2017 – L 21 SB 400/15 = juris). Allerdings ist dieser Aspekt nach Auffassung der Kammer nur ein Teilaspekt, der bei der Frage nach dem vorliegen gravierender Einschränkungen zu beachten ist.
Ein anderer Aspekt ist, dass die konkrete Einstellung des Diabetes bei der Klägerin mit erheblichen – über das normale Maß eines Erwachsenen hinausgehenden – Schwierigkeiten verbunden ist. Die Kammer verkennt hierbei nicht, das bei der Bewertung des GdB bei Kindern grundsätzlich kein anderer Maßstab gilt als bei Erwachsenen. Dies ergibt sich normativ schon aus § 241 Abs. 5 SGB IX in Verbindung mit § 30 Abs. 1 Satz 4 BVG (so auch LSG NRW Urteil vom 17.06.2004 – L 7 SB 101/03 =juris Rn. 21, freilich noch zu den Vorgaben der AHP). Die Tatsache, dass sich bestimmte Beeinträchtigungen bei Kindern aber schon faktisch anders darstellen, muss gleichwohl bei der Frage nach der konkreten Teilhabebeeinträchtigung gestellt werden. Denn die konkrete Teilhabebeeinträchtigung bestimmt letztlich die Höhe des GdB. Die Kammer verkennt auch nicht, dass das von der Klägerin verwendete Flash Glukose Monitoring System Free Style Libre durchaus mit Vorteilen für den Patienten verbunden ist. Es erlaubt eine dichtere Kontrolle des Blutzuckerspiegels ohne die Notwendigkeit einer häufigen invasiven (blutigen) Messung (vgl. zur Bewertung der kontinuierlichen interstitiellen Glukosemessung (CGM) mit Real-Time Messgeräten bei insulinpflichtigem Diabetes auch den Abschlussbericht des vom Gemeinsamen Bundesausschuss beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Auftrag gegebenen entsprechenden Gutachten vom 21.05.2015 abrufbar unter ;Es ist aber nach Auffassung der Kammer durchaus zu berücksichtigen, dass die der Klägerin zur Verfügung stehenden Hilfsmittel eben nicht für den Gebrauch bei Kindern speziell konzipiert und designed worden sind, sondern letztlich dem Markt der Hilfsmittel für Erwachsenen entstammen. Dies hat schon im Hinblick auf die Größe und Handlichkeit stärkere Nachteile für die sechsjährige Klägerin, die bei der Untersuchung bei Dr. […] ein Körpergewicht von 17,7 kg bei einer Größe von 114 cm hatte. Das hier schon im Hinblick auf Körpergröße und ‑gewicht Unterschiede zu erwachsenen Träger entsprechender Diabetes-Hilfsmittel bestehen, ist nach Auffassung der Kammer evident. Darüber hinaus ist vor diesem Hintergrund auch zu berücksichtigen, dass der tägliche bzw. zweitägliche Wechsel des Katheters und der alle sieben Tage erforderliche Wechsel des Sensors im Hinblick auf Alter und Gewicht der Kläger belastender ist, als dies für einen erwachsenen oder auch jugendlichen Patienten wäre. Trotz der intensiven Bemühungen der Eltern, woran die Kammer keinen Zweifel hat, sind aufgrund des Alters und der Tätigkeitsprofils der Klägerin auch weiterhin recht stark schwankende Blutzuckerwerte, mit den damit einhergehenden somatischen und psychischen Folgen für die Klägerin festzustellen. Gerade hierin unterscheidet sich die Klägerin auch von älteren Personen in einer ähnlichen Situation. Mit der Dauer der Erkrankung und dem zunehmenden Entwicklungsgrad der Patienten steigt die Fähigkeit, Entwicklungen des Blutzuckers zu spüren und hierauf adäquat zu reagieren. Dr. […] hat festgestellt, dass die Klägerin zwar durchaus in der Lage ist, eine Hypoglykämie-Entwicklung zu spüren. Sie kann aber ohne Hilfe darauf nicht adäquat reagieren und überdies finden sich gleichwohl häufiger die bereits oben erwähnten Unterzuckerungen. Gerade diese bestehenden Schwierigkeiten in der Feinjustierung – trotz umfassender Aufsicht – ist zu berücksichtigen. Ein Teil dieser benannten umfassenden Aufsicht ist auch die Tatsache, dass die Klägerin auch nachts durchaus regelmäßig blutig den Blutzucker gemessen bekommt. Auch dies ist nach Auffassung der Kammer ein Aspekt, der als gravierend zu bezeichnen ist. Zwar verkennt die Kammer auch hier nicht, dass häufige Messungen, die der Vorsicht um die Gesundheit geschuldet sind und medizinisch nicht notwendig sind als irrelevant für die Bewertung des GdB angesehen werden (LSG NRW Urteil vom 09.06.2017 – L 21 SB 400/15 = juris Rn. 28 unter Hinweis auf LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 23.11.2016 – L 13 SB 112/14 =juris Rn. 17). Im vorliegenden Fall geht die Kammer nach dem Ergebnis der Ermittlungen aber davon aus, dass im Hinblick auf sich als schwierig erweisende Einstellung und das kindliche Alter der Kläger durchaus eine entsprechende Notwendigkeit ergibt. Dass das blutige Messen hierbei nicht „mitten in der Nacht“ sondern am späten Abend erfolgt ist nach Auffassung der Kammer unerheblich. Die Klägerin geht als sechsjährige früh zu Bett und wird dann nachts mit den Messungen und den ggf. erforderlichen Nahrungsgaben aus dem Schlaf gerissen, was nach Auffassung der Kammer auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin nunmehr die Grundschule besucht durchaus eine starke Teilhabebeeinträchtigung darstellt (vgl. zu dieser Thematik auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.12.2016 – L 13 SB 232/14 = juris, freilich zu einer berufstätigen Klägerin).
In einer Gesamtabwägung kommt die Kammer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass zwar ein notfallärztliches Eingreifen bislang nicht erforderlich war und Folgeerkrankungen nicht vorliegenauf der einen und den besonderen Belastungen, die die Klägerin konkret treffen, auf der anderen Seite zu der Einschätzung, dass vorliegend auch das – restriktiv auszulegende – Tatbestandsmerkmale einer erheblichen Teilhabebeeinträchtigung durch gravierende Einschnitte bei der Klägerin derzeit vorliegt.“ (vgl. Sozialgericht Aachen, Urteil vom 26.02.2019 – S 12 SB 847/17, Seite 6 ff.; Hervorhebungen und Auslassungen durch den Autor).
Auch, wenn vielen von Euch die Entscheidung dahingehend nicht gefallen wird, weil sie den Mythos des immer richtigen GdB von 50 nicht stützt, muss man konstatieren, dass sich der Richter extrem tiefgehend mit der Materie und dem Prozesstoff beschäftigt hatte. Auch mit der Krankheit Diabetes mellitus hat er sich sehr umfassend beschäftigt und sodann sowohl das medizinische, als auch das juristische Schrifttum sehr umfassend nachvollzogen. Die Entscheidung halte ich auch für sehr überzeugend und richtig. Spätestens seit der Abschaffung der AHB war der immer richtige GdB von 50 das, was er ist: ein Mythos.
Wichtig ist auch, das Gericht vertritt – anders als die StädteregionAachen – die Rechtsauffassung, dass die Besonderheiten von Kindern durchaus zu berücksichtigen sind. Das betrifft die ggf. vorhandenen größeren Schwankungen der Blutzuckerwerte, die ggf. auch nächtliche (Blutzucker-)Messungen und Korrekturen erforderlich machen. Dass es für ein Kind eine erhebliche Belastung ist, wenn sie immer mal wieder aufgrund einer Unterzuckerung aus dem Schlaf erweckt werden muss und, dass das nicht förderlich für die Grundschule ist, ist auch auf der Hand liegend.
Ebenso hat mich gefreut, dass das Gericht mein Argument aufnimmt, dass es sehr gut nachvollziehbar ist, dass das Setzen von Kathetern und Sensoren oder das Stechen mit Nadeln angstbesetzt ist. Denn gerade Katheter und Sensoren werden nicht für Kinder hergestellt, sondern für Erwachsene. Bei Sensoren gibt es gar keine unterschiedlichen Größen, bei Kathetern gibt es diese nur sehr eingeschränkt. Dass das bei einem Kind mit 18 kg Körpergewicht schmerzhafter ist, als bei einer Person mit 120 kg Körpergewicht dürfte auch evident sein. Erfreulicherweise nimmt das Gericht dieses Argument auf und legt dies seiner Würdigung zugrunde.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat die Entscheidung bestätigt und die Berufung zurückgewiesen (auch, wenn das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen nicht so tief eingestiegen ist und beispielsweise Kohlenhydrate und Kalorien verwechselt).
„Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet: Das Sozialgericht hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom […].[…].2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom […].[…].2017 zu Recht verurteilt, den GdB der Klägerin ab dem […].[…].2016 mit einem GdB von 50 zu bewerten und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H festzustellen.
Zur Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, die er sich insoweit nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage im Wesentlichen zu Eigen macht (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren. Hierin wiederholt dieser im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen und macht außerdem u. a. noch geltend, dass aus seiner Sicht keine ausreichend dokumentierte Grundlage für einen GdB von 50 gegeben sei. Vom Gutachter sei nur ein BZ-Tagebuch über einen Zeitraum von einem Monat ausgewertet worden. Gravierende Einschnitte in der Teilhabe ließen sich daraus nicht ableiten. Nächtliche Unterzuckerungen, die mit einer Kaloriengabe verbunden waren, seien im dokumentierten Zeitraum nur dreimal aufgetreten. Es liege auch bis zum Zeitpunkt der Berufungsbegründung keine Blutzuckerdokumentation über einen angemessenen Zeitraum von zwei bis drei Monaten vor.
Hieraus folgt keine abweichende Beurteilung, auch wenn dem Beklagten insoweit zuzustimmen ist, dass der vom Gutachter ausgewertete Zeitraum sehr knapp bemessen gewesen ist. Indes ergeben sich aus den im Berufungsverfahren beigezogenen Unterlagen und insbesondere dem Blutzuckertagebuch für die Zeit von Februar bis September 2020 stärkere Unterzuckerungen, die eine Kohlenhydratzufuhr mit Fremdhilfe in der Nacht nach sich gezogen haben, für einen erheblich längeren Zeitraum und in einem deutlich größeren Umfang, als aus den bislang berücksichtigten Unterlagen, die, wie dargelegt, allerdings auch nur einen Zeitraum von einem Monat (Anfang Februar bis Anfang März 2018) umfasst haben. So bestand etwa im Monat August 2020 in dreizehn, im April und Mai 2020 in jeweils sechs Nächten die Notwendigkeit zur Gabe von Kohlenhydraten nach entsprechender Blutzuckermessung (für die Monate Juni und Juli lagen offenbar auf Grund eines Gerätefehlers keine durchgehenden Messwerte vor). Zur Überzeugung des Senats stellen diese häufigen Störungen der Nachtruhe für die mittlerweile neunjährige schulpflichtige Klägerin erhebliche Einschnitte dar, die eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung bedingen, indem sie u. a. zu Müdigkeit und Unkonzentriertheit auch in der Schule führen, wie dies auch aus den vorgelegten Unterlagen der Eltern der Klägerin hervorgeht. Ausweislich der von der Beklagten im Berufungsverfahren vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahmen wird dies offenbar auch von dieser im Ergebnis nicht grundlegend anders bewertet. So wird in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 18.01.2021 und 24.02.2021 u. a. ausgeführt, dass ausweislich der nunmehr vorliegenden Dokumentation von 02/2020 – 09/2020 tatsächlich eine zusätzlich bewertbare Teilhabebeeinträchtigung nachgewiesen sein könnte.“ (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.07.2021 – L 17 SB 129/19, Seite 8 f.; Hervorhebungen und Auslassungen durch den Autor).
Das Landessozialgericht macht sich die Ausführungen des Sozialgerichts zu eigen, hält diese also für richtig. Das Landessozialgericht selber stellt ein großes Augenmerk auf die Unterzuckerungen mit Fremdhilfe (hier durch die Mutter, nicht durch (Not-)Ärzt*innen). Das ist also ein Aspekt, der sich in der Argumentation durchaus zu betrachten lohnt.
Gerade nächtliche Unterzuckerungen und das schmerzbesetzte Setzen von Kathetern und Sensoren dürften häufig vorliegen. In einem weiteren Verfahren vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen, bei dem ähnliche Einschränkungen vorlagen, haben ich sehr umfassend mit den vorgenannten Entscheidungen argumentiert, woraufhin sehr schnell ein Anerkenntnis der zuständigen Behörde einging. Es kann sich also lohnen zu kämpfen, das muss man aber immer im Einzelfall sehen und darf das keinesfalls pauschal bewerten.
Viele dieser Einschränkungen nehmen außerdem mit zunehmendem Alter ab und mit immer besserer Technik und dem künftig standardmäßigen Einsatz von (hybrid) Closed-Loop-Systemen wird ein GdB von 50 zunehmend in weitere Ferne rücken.
Vorgetragen hatten wir noch diverse weitere Einschränkungen, wie Einschränkungen in Schule und Kindergarten, weil sie den Bedarf an Insulin alleine nicht schätzen oder berechnen kann, selbiges gilt für Kindergeburtstage und Ausflüge. Diese und andere Argumente haben keinen Eingang in das Urteil gefunden. Das ist methodisch auch nicht zu beanstanden, weil das Gericht nicht weiter argumentieren muss, wenn der Anspruch bereits gegeben ist. Weitere Argumente, die den Anspruch stützen, sind dann nicht erforderlich.
Die Urteile im Volltext
Sozialgericht Aachen, Urteil vom 26.02.2019 – S 12 SB 847/17
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.07.2021 – L 17 SB 129/19
Jan hat deutsches und niederländisches Recht in Bremen, Oldenburg und Groningen studiert und ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in einer Kanzlei für Medizin- und Sozialrecht in Bochum. Außerdem hat er eine Zusatzausbildung im Datenschutz (Datenschutzbeauftragter DSB-TÜV) gemacht. Schon während seines Studiums engagierte er sich ehrenamtlich im Bereich Diabetes, insbesondere zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen, und hat die Selbsthilfeorganisation Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH‑M) e. V. mitbegründet und aufgebaut. Er engagiert sich zudem in der Stiftung Stichting Blue Diabetes.