Immer wieder in Foren und sozialen Netzwerken heiß diskutiert ist die Frage, ob man mit Diabetes einen Schwerbehinderten Ausweis bekommt und unter welchen Voraussetzungen dies verlangt werden kann.
Häufig zu hören ist dann:
Klar bekommst Du mit Diabetes einen Schwerbehindertenausweis.
Mit Diabetes bekommst Du mindestens 50%.
Grad der Behinderung
So viel darf ich schon einmal vorweg nehmen, so leicht ist es nicht. Übrigens ist man auch nicht zu 50% schwerbehindert (das wäre ja auch nur halb schwerbehindert), viel mehr wird die Schwerbehinderung in Graden angegeben. Im Falle von Diabetes wird die Behinderung in „Grad der Behinderung“ (GdB) angegeben. Zusätzlich gibt es noch den Grad der Schädigungsfolgen (GdS), wobei die Unterscheidung nicht relevant ist. Der GdB meint letztlich nur die „Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache“ und der GdS meint die Folgen einer bestimmten Schädigung. Höhe und Berechnung unterliegen jedoch den selben rechtlichen Grundlagen.
Versorgungsmedizin-Verordnung
Grundlage für die Feststellung eines Schwerbehindertenstatusses ist § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Seit dem 01. Januar 2009 unterfällt die Berechnung des GdB bei Diabetes der Versorgungsmedizin-Verordnung (Langtitel: „Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes“ – VersMedV), damit löste die VersMedV die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ von 1996 (AHP 1996) ab. Die AHP waren Gegenstand vieler Rechtsstreitigkeiten, insbesondere weil sie als heillos veraltet galten.
Die Anlage zur VersMedV regelt zum Diabetes das Folgende:
5. Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen
d) Bei angeborenen oder im Kindesalter aufgetretenen Behinderungen ist im Einzelnen folgendes zu beachten:
jj) Beim Diabetes mellitus ist Hilflosigkeit bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres anzunehmen.15. Stoffwechsel, innere Sekretion
In diesem Abschnitt nicht erwähnte angeborene Stoffwechselstörungen sind analog und unter Berücksichtigung ihrer vielfältigen Auswirkungen zu beurteilen. Normabweichungen der Laborwerte bedingen für sich allein noch keinen GdS.15.1 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0. Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20. Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40. Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50. Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.
Aus der Vorstehenden Tabelle lassen sich die meisten Parameter bereits entnehmen. Jemand der also keine Unterzuckerungen bekommen kann, keine oder kaum Beeinträchtigungen und keine Teilhabebeeinträchtigungen hat, erhält keinen GdB. Menschen, die Unterzuckerungen bekommen könnten erleiden per Definition bereits eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung und erhalten einen GdB von 20.
Sofern man über die Möglichkeit der Hypoglykämie auch noch mindestens einmal täglich den Blutzucker messen muss und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt ist, erhält einen GdB von 30 bis 40. Diese Stufe dürfte für alle Typ‑1 Diabetiker zutreffend sein, da der Aufwand weit über das einmalige tägliche Blutzuckermessen hinausgeht. So muss mindestens viel mal täglich der Blutzucker bestimmt werden und Insulin subkutan injiziert werden, hierbei muss die Menge des Insulins individuell an die Menge der Nahrungsaufnahme und den Blutzuckerwert angepasst werden.
Sofern man mindestens vier mal täglich Insulin injizieren muss und die Dosis an den Blutzucker, die Belastung und die Mahlzeit anpassen muss und „durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt ist“ erhält man aufgrund der dann vorliegenden ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung einen GdB von 50. Während der erste Teil der Voraussetzungen bei allen Typ‑1 Diabetikern gegeben ist, sind regelmäßig die gravierenden Einschnitte streitig. Aufgrund dessen wird vielfach eine Beschränkung des GdS auf 40 bei Diabetikern festgestellt. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) auch bereits mit Urteil vom 25. Oktober 2012 (Az.: B 9 SB 2/12 R) bestätigt:
Für einen Grad der Behinderung von 50 reicht es nach Teil B Nr 15.1 Abs 4 Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung bei Diabetes Mellitus nicht aus, dass eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchgeführt wird, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit von den dort genannten Kriterien selbstständig variiert werden muss; vielmehr muss die betreffende Person durch die Auswirkungen des Diabetes Mellitus auch insgesamt gesehen erheblich in der Lebensführung beeinträchtigt sein.
Die Voraussetzungen für einen GdB von 50 im Einzelnen:
- Mindestens 4 Insulininjektionen täglich
- Insulindosis muss vom Patienten individuell angepasst werden
- Patient muss in der Lebensführung gravierend beeinträchtigt sein
Was sind also gravierende Einschnitte, die Voraussetzung für den begehrten GdB von 50 sind?
Das Bundessozialgericht (s. o.) führt hierzu aus:
Die durch erhebliche Einschnitte bewirkte gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung kann mithin auf Besonderheiten der Therapie beruhen, etwa wenn ein Erkrankter aufgrund persönlicher Defizite für eine Injektion erheblich mehr Zeit benötigt als ein anderer, im Umgang mit den Injektionsutensilien versierter Mensch. Einschnitte in der Lebensführung zeigen sich daneben auch bei einem unzulänglichen Therapieerfolg, also der Stoffwechsellage des erkrankten Menschen.
Als Beispiele für „gravierende Einschnitte in die Lebensführung“ benennt das Bundessozialgericht (s. o.):
Sie erleide in ihrer gesamten Lebensführung (Beruf, Sport, Reisen) keine gravierenden krankheitsbedingten Einschränkungen. Zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen sei es noch nie gekommen.
Folglich müssen für die Gewährung des Schwerbehindertenstatusses (GdB >= 50) weitere Einschnitte vorhanden sein, die den Patienten gravierend in der Lebensführung beeinträchtigen. Dieses Kriterium kann nur individuell im jeweiligen Einzelfall bewertet werden, bestehen kann dies in beruflichen Einschränkungen, sportlichen oder reisetechnischen Einschränkungen. Hierfür ist es erforderlich diese exakt zu dokumentieren und auch genaue Tagebuch Aufzeichnungen vorzuhalten, denn nur so lassen sich die Kriterien nachweisen. Derzeit scheint die Latte für das Kriterium gravierende Einschnitte in der Lebensführung recht hoch zu liegen.
Begleiterkrankungen?
Was ist, wenn ich weitere Begleit- oder Folgeerkrankungen habe? Diese können jeweils einen eigenen GdB bedingen. Allerdings werden unterschiedliche GdB nicht addiert. Wenn ich es also schaffe für den Diabetes einen GdB von 50 anerkannt zu bekommen und einen weiteren GdB von 50 für eine Folgeerkrankung wird kein Gesamt GdB von 100 gebildet werden.
Gesamt-GdS
a) Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar Einzel-GdS anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdS durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdS ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.
b) Bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen sind unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen, zu denen in der Tabelle feste GdS-Werte angegeben sind.
c) Bei der Beurteilung des Gesamt-GdS ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdS bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdS 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.
d) Um die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander beurteilen zu können, muss aus der ärztlichen Gesamtschau heraus beachtet werden, dass die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander unterschiedlich sein können:
aa) Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen.
bb) Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken. Dies ist vor allem der Fall, wenn Funktionsbeeinträchtigungen an paarigen Gliedmaßen oder Organen – also z. B. an beiden Armen oder beiden Beinen oder beiden Nieren oder beiden Augen – vorliegen.
cc) Die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden.
dd) Die Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung werden durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt.
ee) Von Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdS von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdS von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Es wird also die Gesamtbeeinträchtigung aller einzelnen körperlichen und psychischen Einschränkungen, juristisch bezeichnet man das als regelwidrige Abweichungen vom Normalzustand, als Gesamtzustand bewertet, hierfür wird dann ein Gesamt-GdB gebildet.
Bei Jugendlichen
Bei Jugendlichen bis 16 Jahren ist gemäß Ziffer 5 lit. d jj Anlage VersMedV regelmäßig Hilflosigkeit anzunehmen!
5. Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen |
d) Bei angeborenen oder im Kindesalter aufgetretenen Behinderungen ist im Einzelnen folgendes zu beachten:
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jj) Beim Diabetes mellitus ist Hilflosigkeit bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres anzunehmen. |
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Jan hat deutsches und niederländisches Recht in Bremen, Oldenburg und Groningen studiert und ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in einer Kanzlei für Medizin- und Sozialrecht in Bochum. Außerdem hat er eine Zusatzausbildung im Datenschutz (Datenschutzbeauftragter DSB-TÜV) gemacht. Schon während seines Studiums engagierte er sich ehrenamtlich im Bereich Diabetes, insbesondere zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen, und hat die Selbsthilfeorganisation Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH‑M) e. V. mitbegründet und aufgebaut. Er engagiert sich zudem in der Stiftung Stichting Blue Diabetes.