Die Voraussetzungen zur Anerkennung einer (Schwer-)Behinderung bei Diabetes mellitus waren hier im Blog schon regelmäßig Thema. Insbesondere hatte ich die Voraussetzungen sehr ausführlich hier dargestellt: Voraussetzungen zur Anerkennung einer Schwerbehinderung. Die Rechtsprechung ist hier auch zunehmend streng.
Die Rechtsprechung führt dazu, dass über die üblichen Voraussetzungen (mindestens 4 Insulininjektionen täglich, Anpassung der Insulindosis) ganz erhebliche, gravierende Einschnitte in die Lebensführung hinzukommen müssen. Typischerweise scheitert es an dieser letzten Voraussetzung, nämlich dem Nachweis gravierender Einschnitte in die Lebensführung. Um dies nachweisen zu können, müssen ganz massive Einschränkungen zu den typischen Belastungen hinzutreten, denn die typischen Belastungen und Einschränkungen sind mit einem GdB von 40 abgegolten.
Dies sieht auch das Sozialgericht Stuttgart so. In einer jüngeren Entscheidung heißt es hierzu wie folgt:
Nach Auffassung des Sozialgerichts sind zwar die Voraussetzungen für einen GdB von 50 bei Diabetes insoweit erfüllt, dass täglich mindestens vier Insulininjektionen und die selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung erforderlich seien. Eine über den Therapieaufwand hinausgehende gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte lasse sich aber nicht feststellen. Der Kläger werde durch die Anforderungen an seine Diabetestherapie in seiner Spontaneität und auch Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Gleichzeitig gehe er aber seiner Berufstätigkeit nach, fahre in den Urlaub und treibe nach eigenen Angaben Sport. Bei einer Gesamtbetrachtung der unterschiedlichen Lebensbereiche komme das Sozialgericht deshalb zu der Überzeugung, dass insgesamt noch keine gravierenden Einschränkungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erkennbar seien, die eine Erhöhung des GdB für Diabetes auf 50 rechtfertigten.
Sozialgericht Stuttgart, Urteil vom 29.01.2020 – S 9 SB 1486/19, Pressemitteilung vom 05.08.2020, LINK, Hervorhebungen durch den Autor.
Insgesamt ist diese Entwicklung für Diabetiker*Innen überaus ärgerlich und unterstützt sicherlich nicht deren Teilhabe. Allerdings muss man der betreffenden Richterin lassen, dass genau diese Auslegung in dem relevanten Abschnitt der Versorgungsmedizin-Versordnung angelegt ist und sich die Entscheidung in einer Linie mit diversen anderen – auch obergerichtlichen – Entscheidungen anderer Gerichte bewegt (Rechtsprechungsübersicht).
Diabetiker*Innen werden sich daran gewöhnen müssen, dass ein GdB von 50 und damit eine (Schwer-)Behinderung bei Diabetes immer seltener werden wird. Dies wird sich durch ein Fortschreiten der Technik massiv verstärken; insbesondere dann, wenn Loop-Techniken zur Standardversorgung werden, was sicherlich in absehbarer Zeit passieren wird.
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Jan hat deutsches und niederländisches Recht in Bremen, Oldenburg und Groningen studiert und ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in einer Kanzlei für Medizin- und Sozialrecht in Bochum. Außerdem hat er eine Zusatzausbildung im Datenschutz (Datenschutzbeauftragter DSB-TÜV) gemacht. Schon während seines Studiums engagierte er sich ehrenamtlich im Bereich Diabetes, insbesondere zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen, und hat die Selbsthilfeorganisation Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH‑M) e. V. mitbegründet und aufgebaut. Er engagiert sich zudem in der Stiftung Stichting Blue Diabetes.