LSG: Nicht gene­rell Merk­zei­chen B bei Kin­dern mit Diabetes

Ich hat­te vor eini­ger Zeit bereits aus­führ­lich geschil­dert, unter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen Men­schen mit Dia­be­tes einen Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis erhal­ten kön­nen und wie sich der Grad der Behin­de­rung bil­det (Blog­ein­trag vom 31. Mai 2013). Regel­mä­ßig erhal­ten Men­schen mit Dia­be­tes, die jün­ger als 16 Jah­re alt sind, das Merk­zei­chen „H“ für hilfs­los. Dies folgt aus der Regel des Teil A Zif­fer 5 d jj Anla­ge Ver­sor­gungs­me­di­zin­ver­ord­nung (Vers­MedV). Durch das Merk­zei­chen H kön­nen Dia­be­ti­ker u. a. ein Bei­blatt mit einer Wert­mar­ke bei der Inte­gra­ti­ons­be­hör­de erwer­ben (EUR 72,00 im Jahr), mit­tels der die Per­son kos­ten­los im öffent­li­chen Per­so­nen­nah­ver­kehr Bus, Stra­ßen­bahn, S- und U‑Bahn sowie Zug fah­ren kann; wohl­be­merkt nur im Nahverkehr!

Wei­ter gibt es das Merk­zei­chen „B“ (Begleit­per­son), die­ses gestat­tet es schwer­be­hin­der­ten Men­schen eine Begleit­per­son mit­zu­neh­men. Die­se Begleit­per­son kann dann kos­ten­los im ÖPNV mit­fah­ren, wenn der schwer­be­hin­der­te zu betreu­en­de Mensch die Wert­mar­ke erwor­ben hat. Außer­dem kom­men Begleit­per­son viel­fach kos­ten­los zu Ver­an­stal­tun­gen, die nor­ma­ler­wei­se Ein­tritts­gel­der kosten.

Die Vor­aus­set­zung für die Ertei­lung des Merk­zei­chens „B“ sind in Teil D Zif­fer 2 Anla­ge Vers­MedV geregelt:

b) Eine Berech­ti­gung für eine stän­di­ge Beglei­tung ist bei schwer­be­hin­der­ten Men­schen (bei denen die Vor­aus­set­zun­gen für die Merk­zei­chen „G“, „Gl“ oder „H“ vor­lie­gen) gege­ben, die bei der Benut­zung von öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln infol­ge ihrer Behin­de­rung regel­mä­ßig auf frem­de Hil­fe ange­wie­sen sind. Dem­entspre­chend ist zu beach­ten, ob sie bei der Benut­zung öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel regel­mä­ßig auf frem­de Hil­fe beim Ein- und Aus­stei­gen oder wäh­rend der Fahrt des Ver­kehrs­mit­tels ange­wie­sen sind oder ob Hil­fen zum Aus­gleich von Ori­en­tie­rungs­stö­run­gen (z. B. bei Seh­be­hin­de­rung, geis­ti­ger Behin­de­rung) erfor­der­lich sind.

c) Die Berech­ti­gung für eine stän­di­ge Beglei­tung ist anzu­neh­men bei

Quer­schnitt­ge­lähm­ten,

Ohn­hän­dern,

Blin­den und Seh­be­hin­der­ten, Hör­be­hin­der­ten, geis­tig behin­der­ten Men­schen und Anfalls­kran­ken, bei denen die Annah­me einer erheb­li­chen Beein­träch­ti­gung der Bewe­gungs­fä­hig­keit im Stra­ßen­ver­kehr gerecht­fer­tigt ist.

Das Baye­ri­sche Lan­des­so­zi­al­ge­richt hat­te nun über eine Kla­ge einer Dia­be­ti­ke­rin zu ent­schei­den (Urteil vom 28. Juli 2014 – L 3 SB 195/13), die, ver­tre­ten durch ihre Eltern, ver­lang­te, dass ihr das Merk­zei­chen „B“ zuer­kannt wür­de. Bereits zuvor wur­de ihr wegen des Dia­be­tes mel­li­tus ein Grad der Behin­de­rung (GdB) von 50 und das Merk­zei­chen „H“ aner­kannt. Die 7‑jährige Dia­be­ti­ke­rin bean­trag­te dann erneut die Aner­ken­nung des Merk­zei­chens „B“ und des Merk­zei­chens „G“ (Ein­schrän­kung der Bewe­gungs­fä­hig­keit im Stra­ßen­ver­kehr). Die­ser Antrag wur­de von der zustän­di­gen Inte­gra­ti­ons­be­hör­de abge­lehnt. Sowohl im Wider­spruchs­ver­fah­ren als auch im Kla­ge­ver­fah­ren ver­folg­te die Dia­be­ti­ke­rin nur noch den Antrag auf Aner­ken­nung des Merk­zei­chens „B“ wei­ter. Die Eltern begrün­de­ten den Antrag damit, dass ihre Toch­ter einer stän­di­gen Beglei­tung im Stra­ßen­ver­kehr bedürfe.

Das Sozi­al­ge­richt Mün­chen, Gerichts­be­scheid vom 1. Okto­ber 2013 – 29 SB 182/13, hat­te ent­schie­den, dass der Ver­wal­tungs­akt der Inte­gra­ti­ons­be­hör­de auf­ge­ho­ben wird und der Dia­be­ti­ke­rin das Merk­zei­chen „B“ zuer­kannt wer­de. Hier­ge­gen ist die Inte­gra­ti­ons­be­hör­de in Beru­fung gegangen.

Vor dem Lan­des­so­zi­al­ge­richt hat ein Gut­ach­ter fol­gen­de Fest­stel­lun­gen gemacht: Die Dia­be­ti­ke­rin habe in einem Zeit­raum von 12 Mona­ten ins­ge­samt 17 Unter­zu­cke­run­gen mit Blut­zu­cker­wer­ten von unter 50 mg/dl (< 2,8 mmol/l) gehabt, hier­von sei­en 4 Blut­zu­cker­wer­te unter 40 mg/dl (< 2,2 mmol/l) gewe­sen. Davon waren nach den Fest­stel­lun­gen des Gut­ach­ters zwei schwe­re Hypo­glyk­ämien, die einer Fremd­hil­fe bedurf­ten. Der Gut­ach­ter wies dar­auf­hin, dass bis zu vier Hypo­glyk­ämien einer Fremd­hil­fe bedurft hät­ten und das auch bei einem Erwach­se­nen der Fall gewe­sen sei. Der Gut­ach­ter ver­trat wei­ter­hin die Mei­nung, dass in dem Fall ein Erwach­se­ner sogar – mit ent­spre­chen­der Vor­be­rei­tung – ein Kfz füh­ren dür­fe (Anmer­kung des Autors: Die­se Bewer­tung ist mei­ner Rechts­auf­fas­sung nach falsch!)

Das Baye­ri­sche Lan­des­so­zi­al­ge­richt, Urteil vom 28. Juli 2014 – L 3 SB 195/13, hat ent­schie­den, dass die Beru­fung der Inte­gra­ti­ons­be­hör­de begrün­det ist und die Kla­ge der Dia­be­ti­ke­rin gegen den Bescheid abge­wie­sen wird. Sie habe kei­nen Anspruch auf die Ertei­lung des Merk­zei­chens „B“.

Zu prü­fen ist nach der Ent­schei­dung des Lan­des­so­zi­al­ge­richts, inwie­weit die Beein­träch­ti­gun­gen der Dia­be­ti­ke­rin von den Beein­träch­ti­gun­gen gleich­alt­ri­ger Kin­der abwei­chen. Alters­ty­pi­sche Beein­träch­ti­gun­gen müss­ten inso­weit aus­ge­blen­det wer­den. Die­se Beein­träch­ti­gun­gen sind dann wie­der­um mit einem Erwach­se­nen zu ver­glei­chen und es ist zu prü­fen, ob ein Erwach­se­ner mit den­sel­ben Beein­träch­ti­gun­gen das Merk­zei­chen „B“ erhal­ten hät­te oder nicht:

Bei einem behin­der­ten Klein­kind ist bei der Beur­tei­lung, ob die Vor­aus­set­zun­gen des Nach­teils­aus­glei­ches „G“ vor­lie­gen, als Ver­gleichs­maß­stab nicht auf den Gesund­heits­zu­stand eines gleich­alt­ri­gen gesun­den Klein­kin­des abzu­stel­len. Viel­mehr ist ent­schei­dend, ob die bei dem Klein­kind fest­ge­stell­ten Gesund­heits­stö­run­gen bei einem Erwach­se­nen die Zuer­ken­nung des Nach­teils­aus­gleichs „G“ recht­fer­ti­gen wür­den, also die Gesund­heits­stö­run­gen die ent­spre­chen­den Funk­tio­nen eines erwach­se­nen Behin­der­ten im erfor­der­li­chen Aus­maß beein­träch­ti­gen wür­den. Für die Beur­tei­lung, ob die Vor­aus­set­zun­gen des Nach­teils­aus­gleichs „B“ bei einem behin­der­ten Klein­kind vor­lie­gen, sind die­sel­ben Kri­te­ri­en wie bei einem Erwach­se­nen anzunehmen.

Inso­weit berück­sich­tigt das Lan­des­so­zi­al­ge­richt die gut­ach­ter­li­che Stel­lung­nah­me wie folgt:

Hier­von aus­ge­hend hat die Sach­ver­stän­di­ge Dr. D. mit inter­nis­ti­schem Fach­gut­ach­ten vom 28.04.2014 das vor­ge­leg­te Dia­be­tes­ta­ge­buch für den Zeit­raum 12.10.2012 bis 28.11.2013 aus­ge­wer­tet. Das Blut­zu­cker­ta­ge­buch vom 12.10.2012 bis 28.11.2013 zeigt ins­ge­samt 17 Unter­zu­cke­run­gen mit Wer­ten von weni­ger als 50 mg/dl und davon 4 Unter­zu­cke­run­gen mit Wer­ten von weni­ger als 40 mg/dl, die mög­li­cher­wei­se auch bei einem Erwach­se­nen frem­de Hil­fe bei Bewäl­ti­gung der Hypo­glyk­ämien erfor­dern könn­ten. Die Sach­ver­stän­di­ge Dr. D. weist dar­auf hin, dass die kind­li­che Klä­ge­rin an einem Dia­be­tes mel­li­tus mit schwan­ken­der, jedoch weit­ge­hend sta­bi­ler Stoff­wech­sel­la­ge mit häu­fi­gen leich­te­ren Hypo­glyk­ämien lei­det, jedoch sel­te­nen schwer­wie­gen­den Hypo­glyk­ämien, die bei einem Erwach­se­nen mit ent­spre­chen­der Stoff­wech­sel­la­ge frem­de Hil­fe erfor­dern wür­den. Die kind­li­che Klä­ge­rin habe unter der kom­pe­ten­ten und umsich­ti­gen Betreu­ung durch ihre Eltern mit eng­ma­schi­gen Blut­zu­cker­kon­trol­len bis­lang kei­ne eigen­stän­dig nicht kon­trol­lier­ba­ren Unter­zu­cke­run­gen, kei­ne coma­tö­sen Zustän­de und kei­ne Ohn­machts­an­fäl­le erlitten.

Hin­zu­kam, dass in den letz­ten zwölf Mona­ten vor dem Urteil in der Beru­fungs­in­stanz bei einer durch­schnitt­li­chen Blut­zu­cker­kon­trol­le von 12 Tes­tun­gen am Tag kei­ne Unter­zu­cke­run­gen von unter 50 mg/dl (< 2,8 mmol/l) mehr auf­ge­tre­ten sind. Nach allem kommt das Lan­des­so­zi­al­ge­richt zu fol­gen­dem Ergebnis:

Ein erwach­se­ner Dia­be­ti­ker mit die­ser Stoff­wech­sel­la­ge, bei dem mög­li­cher­wei­se vier­mal frem­de Hil­fe bei Hypo­glyk­ämien erfor­der­lich gewe­sen sein könn­te, in einem Zeit­raum von zwölf Mona­ten, zuletzt am 07.07.2013, also zuletzt vor acht Mona­ten, ist durch­aus in der Lage, sich im öffent­li­chen Stra­ßen­ver­kehr und bei Benut­zung öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel, sowohl beim Ein- und Aus­stei­gen, als auch wäh­rend der Fahrt sicher zu ver­hal­ten. Eine Ver­gleich­bar­keit mit epi­lep­ti­schen Anfäl­len mitt­le­rer Häu­fig­keit ist nicht gege­ben. Dar­über hin­aus ist anzu­mer­ken, dass ein erwach­se­ner Dia­be­ti­ker mit der Stoff­wech­sel­la­ge, wie sie bei der kind­li­chen Klä­ge­rin vor­liegt, bei ent­spre­chen­der Vor­be­rei­tung auch einen PKW fah­ren dürfe.

Dem­entspre­chend ist die kind­li­che Klä­ge­rin bei der Benut­zung von öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln infol­ge ihrer Behin­de­rung nicht regel­mä­ßig auf Hil­fe im Sin­ne von § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ange­wie­sen. Das Merk­zei­chen „B“ steht ihr nicht zu.

Das Urteil ist rechts­kräf­tig, die Revi­si­on wur­de nicht zugelassen.

Im Ergeb­nis ist hier­zu fest­zu­stel­len, dass die Anfor­de­run­gen an die Fest­stel­lung des Merk­zei­chens „B“ bei Typ‑1 Dia­be­ti­kern sehr hoch lie­gen, die Fest­stel­lung jedoch nicht unmög­lich ist. Antrags­stel­ler wer­den zu prü­fen haben, inwie­weit häu­fig schwe­re Hypo­glyk­ämien mit dem Bedarf von (ärzt­li­cher) Fremd­hil­fe auf­tra­ten und inwie­weit das Kind oder der Erwach­se­ne im Ver­gleich zu Erwach­se­nen ohne Dia­be­tes mel­li­tus erheb­lich im Stra­ßen­ver­kehr ein­ge­schränkt ist.

Zu beach­ten ist für Eltern von Kin­dern mit Dia­be­tes ist aber fol­gen­des: Ist das Kind schon älter als hier (7 Jah­re) soll­te man sich gut über­le­gen, ob man die­sen Weg wirk­lich gehen möch­te. Denn die Argu­men­ta­ti­on hin­sicht­lich der Schwie­rig­kei­ten im Stra­ßen­ver­kehr mit Dia­be­tes sorgt ver­mut­lich – sofern es der Stra­ßen­ver­kehrs­be­hör­de bekannt wird – dafür, dass es Pro­ble­me bei der Ertei­lung eines Füh­rer­scheins geben könn­te; ins­be­son­de­re weil man die Anzahl schwe­rer Hypo­glyk­ämien anschau­lich auf­lis­tet. Anders als hier das Baye­ri­sche Lan­des­so­zi­al­ge­richt ist bei zwei schwe­ren Hypo­glyk­ämien inner­halb von 12 Mona­ten grund­sätz­lich von einer Unge­eig­ne­t­heit zum Füh­ren von Kraft­fahr­zeu­gen aus­zu­ge­hen. Inso­weit ist die Argu­men­ta­ti­on bei älte­ren Kin­dern gefähr­lich und die Vor- und Nach­tei­le soll­ten grund­lich abge­wo­gen werden.

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