Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Dezember 2024 – B 3 P 9/23 R
Kinder mit Typ-1-Diabetes und Insulinpumpe haben häufig einen besonders hohen Pflege- und Betreuungsbedarf – vor allem dann, wenn das Insulinmanagement und die Ernährung eng überwacht werden müssen. In einem aktuellen Urteil hat das Bundessozialgericht (BSG) jetzt klargestellt, dass genau diese besonderen Anforderungen bei der Bewertung des Pflegegrades zu berücksichtigen sind.
Das Urteil ist ein wichtiger Meilenstein für betroffene Familien und für alle, die Kinder mit Diabetes im Alltag begleiten.
Der Fall: 2009 geborenes Kind mit Typ-1-Diabetes
Der Kläger – ein 2009 geborenes Kind mit Typ-1-Diabetes – wird über eine Insulinpumpe behandelt. Die Pflegekasse hatte lediglich Pflegegrad 1 bewilligt. Der Vater beantragte eine Höherstufung auf Pflegegrad 2, weil sein Sohn beim Setzen der Kanüle regelmäßig große Angst zeigte und beim Essen eng beaufsichtigt werden musste, um eine vollständige und zeitgerechte Nahrungsaufnahme sicherzustellen.
Sowohl das Sozialgericht Lübeck als auch das Landessozialgericht Schleswig-Holstein gaben der Familie Recht. Die Pflegekasse legte Revision ein – ohne Erfolg.
Das BSG bestätigte die Urteile der Vorinstanzen:
➡️ Der Junge hat Anspruch auf Pflegegrad 2 ab 1. Januar 2017.
Die Kernaussagen des Bundessozialgerichts
Das Gericht hat in zwei Punkten besonders deutliche Worte gefunden, die für viele Familien mit Kindern mit Typ-1-Diabetes wichtig sein können:
Abwehrverhalten gegen das Setzen der Kanüle ist pflegerelevant
Wenn Kinder – krankheitsbedingt – regelmäßig Angst oder Abwehrverhalten gegen notwendige Pflegemaßnahmen zeigen (z. B. das Setzen der Insulinpumpe), dann muss diese Abwehr laufend überwunden werden.
Das BSG sagt klar:
„Wenn die Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen durch Kinder gesundheitlich bedingt laufend überwunden werden muss, löst dies einen pflegerelevanten Hilfebedarf aus.“
Das gilt auch dann, wenn die Angst keine „eigene Krankheit“ ist – entscheidend ist, dass sie Folge der Diabeteserkrankung und der täglichen Therapieanforderungen ist.
Aufsicht beim Essen kann ein eigenständiger Pflegebedarf sein
Kinder mit Typ-1-Diabetes müssen ihre Nahrungsaufnahme genau an die Insulindosierung anpassen – oft unabhängig vom Hunger oder Appetit.
Das BSG betont:
„Wenn und soweit bei Kindern mit Diabetes gesundheitlich bedingt spezifische Anforderungen an die Nahrungsaufnahme bestehen […] löst dies einzelfallabhängig einen eigenständigen pflegerelevanten Hilfebedarf aus.“
Das bedeutet:
Wenn Eltern ihr Kind beim Essen eng beaufsichtigen müssen, weil sonst Unterzuckerungen drohen, kann das zusätzlichals Pflegebedarf gewertet werden – neben der allgemeinen Therapiebeaufsichtigung.
Was bedeutet das für Familien?
Dieses Urteil schafft Rechtssicherheit für viele betroffene Eltern. Bisher bewerteten Pflegekassen vergleichbare Fälle oft unterschiedlich. Die Entscheidung zeigt nun deutlich:
- Angstreaktionen oder Abwehr beim Setzen der Pumpe sind nicht bloß kindliche Verhaltensweisen, sondern pflegerelevant, wenn sie gesundheitlich bedingt sind.
- Die Aufsicht über das Essen zählt ebenfalls, wenn sie gesundheitsbedingt notwendig ist – etwa weil das Kind die Mahlzeit sonst nicht vollständig oder rechtzeitig zu sich nimmt.
- Diese Punkte dürfen nicht einfach in andere Bewertungskategorien verschoben oder gestrichen werden (z. B. in Modul 5 „Therapieeinhaltung“).
Im konkreten Fall ergab die Bewertung nach den anerkannten Pflege-Modulen 32,5 Punkte – und damit den Pflegegrad 2.
💬 Fazit
Das Urteil des BSG stärkt Familien mit Kindern, die aufgrund ihres Diabetes im Alltag besonders viel Unterstützung brauchen. Es verdeutlicht, dass Pflegebedürftigkeit nicht nur körperliche Einschränkungen meint, sondern auch den täglichen, krankheitsbedingten Betreuungsaufwand.
Für Eltern und Diabetes-Teams bedeutet das:
👉 Bei der Antragstellung auf einen höheren Pflegegrad sollten diese konkreten Situationen (Abwehr, Angst, Beaufsichtigung beim Essen) detailliert dokumentiert und beschrieben werden. Eltern sollten hier umfassende Auffassungen machen, beispielsweise in Form eines Standardtages.
So kann sichergestellt werden, dass der tatsächliche Hilfebedarf richtig bewertet wird.

Jan hat deutsches und niederländisches Recht in Bremen, Oldenburg und Groningen studiert und ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in einer Kanzlei für Medizin- und Sozialrecht in Bochum. Außerdem hat er eine Zusatzausbildung im Datenschutz (Datenschutzbeauftragter DSB-TÜV) gemacht. Schon während seines Studiums engagierte er sich ehrenamtlich im Bereich Diabetes, insbesondere zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen, und hat die Selbsthilfeorganisation Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH‑M) e. V. mitbegründet und aufgebaut. Er engagiert sich zudem in der Stiftung Stichting Blue Diabetes.
