Letztes Jahr hatte ich bereits grundsätzlich beschrieben, unter welchen Voraussetzungen Diabetiker einen Schwerbehindertenausweis bekommen können: Unter welchen Voraussetzungen bekomme ich einen Schwerbehindertenausweis mit Diabetes? (Klick)
Bereits damals war klar, dass das schwer ist. Insbesondere wegen der Entscheidung des Bundessozialgerichts, Urteil vom 25. Oktober 2012 – B 9 SB 2/12 R, in der das Bundessozialgerichts die Regelung leider wörtlich bestätigt hat:
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50.
Streitigkeiten entstehen seit der Neufassung der Regelung an dem letzten Halbsatz „und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung“, problematisch ist regelmäßig, was erhebliche Einschnitte sind, bei denen man gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sein muss, um eine Schwerbehinderung festgestellt bekommen zu können.
Urteil
Kürzlich hatte das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt einen solchen Fall zu entscheiden (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 27.08.2014 – L 7 SB 23/13). Konkret ging es um eine Diabetikerin, bei der eine Behinderung aufgrund der Erkrankung Diabetes mellitus festgestellt worden ist. Ihr wurde 1999 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 festgestellt. Sie beantragte eine Neufeststellung (nur möglich wenn sich die rechtlichen oder tatsächlichen (insbesondere eine Verschlechterung der Krankheit) Umstände seitdem geändert haben). Das zuständige Versorgungsamt wies den Antrag zurück. Am 6. Februar 2013 hat das Sozialgericht Dessau-Roßlau die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt hat die Berufung zurückgewiesen und festgestellt, dass bei wenig Therapieaufwand und guten Erfolgen der Grad der Behinderung (GdB) eher niedrig anzusetzen sei, während er höher angesetzt wird, wenn der Therapieaufwand steigt und die Ergebnisse schlechter sind.
So könne die Diabetikerin ihren Beruf voll ausüben (Schlosserin), obwohl sie auch schwere körperliche Tätigkeiten erledigen müssen und sie habe Unterzuckerungen rechtzeitig erkennen und ausgleichen können. Auch die Tatsache, dass sie im Beruf gewisse Vorsichtsmaßnahmen vornehmen und aufpassen müsse, dass die Pumpe nicht abgerissen wird, stelle keine gravierende Beeinträchtigung dar. Zudem habe sie keine größere Anzahl an Krankheitstagen und keine diabetesbedingte Arbeitsunfähigkeit gehabt.
Schwere Unterzuckerungen mit Fremdhilfe seien nie aufgetreten. Zwar sei die Diabetikerin bedingt eingeschränkt in ihrer Lebensführung, die Insulinpumpe habe aber dazu geführt, dass sich die Einschränkungen generell verbessert hatten.
Das Landessozialgericht hat auch festgestellt, dass sie selbstständig Autofahren könne und dies ein zu berücksichtigender Gesichtspunkt sei. Zwar könne sie keine längeren Strecken fahren, auch würden sich im Sommer teilweise wegen des Schweißes die Katheter lösen, dies habe sie auch beim Schwimmen erlebt, aber das seien keine gravierenden Einschränkungen. Fahrrad fahren könne sie, darüber hinaus sei intensiverer Sport nicht möglich. Dass intensiver Sport nicht möglich sei, sei jedoch kein Grund das Kriterium der erheblichen Einschnitte zu bejahen; Beeinträchtigungen in der gesellschaftlichen Teilhabe lägen nicht vor. Außerdem könne sie reisen.
Folgeschäden oder eine besonders schlechte Therapieeinstellung, die wohl Beeinträchtigungen in der Teilhabe rechtfertigen könnten, habe die Diabetikerin nicht erlitten.
Dass sie Mahlzeiten berechnen müsse, um die richtige Menge an Insulin dafür zu spritzen und einen Mehraufwand bei Zwischenmahlzeiten wir Cappuccino habe, rechtfertige keinen GdB von 50, da dies bereits in dem GdB von 40 berücksichtigt sei.
Das Gericht wies daraufhin, dass die Diabetikerin „voll im beruflichen und gesellschaftlichen Leben [integriert]“ sei und schon deswegen eine Feststellung einer Schwerbehinderung im Vergleich zu den anderen Leiden unzulässig sei. Die Einschnitte und die Teilhabebeeinträchtigung müsse so groß sein „wie etwa die vollständige Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, der Verlust eines Beins im Unterschenkel oder eine Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung“.
Folgen
Wenn andere Obergerichte ähnlich urteilen – was anzunehmen ist – dann wird es für Menschen mit Diabetes nicht mehr möglich sein, eine Schwerbehinderung anerkannt zu bekommen und einen Schwerbehindertenausweis zu erhalten, sofern nicht gravierende Folgeschäden vorliegen. Insbesondere diejenigen die einen hohen Aufwand betreiben, um gute Therapieergebnisse zu erzielen und schwere Hypoglykämien zu vermeiden, werden gewissermaßen „bestraft“, sofern sie nicht wegen des hohen Therapieaufwands den Beruf und die weitere gesellschaftliche Einbindung aufgeben müssen. Insbesondere zieht das Gericht die Tatsache, dass die Diabetikerin Autofahren und reisen kann heran, um zu begründen, dass eine Teilhabebeeinträchtigung nicht vorliegt. Auch lässt das Gericht den Einwand, Probleme beim Sport zu haben, nicht gelten.
Zuletzt zieht das Gericht einen Vergleich: Eine Schwerbehinderung könne nur vorliegen, wenn die beruflichen und gesellschaftlichen Einschnitte so gravierend sind „wie etwa die vollständige Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, der Verlust eines Beins im Unterschenkel oder eine Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung“. Damit liegt die Hürde – zumindest in Sachsen-Anhalt – nun extrem hoch. Es ist aber damit zu rechnen, dass sich in anderen Bundesländern eine ähnliche Rechtsprechung einstellen wird; Grund dafür ist schon der Wortlaut der Norm, die entsprechende Einschnitte zusätzlich verlangt.
Anknüpfungspunkt für zukünftige Antragssteller sind ggf. zahlreiche schwere Hypoglykämien mit Fremdhilfe, schwere Folgeschäden oder eine Berufsunfähigkeit durch psychische und physiologische Probleme aufgrund des Diabetes. Weniger schwerwiegende Einschränkungen werden wohl nicht zu Erfolg führen.
Oliver Ebert hat das Urteil ebenfalls kommentiert (sehr lesenswert) und insbesondere daraufhingewiesen, dass er vor der Umstellung der Regelung damals schon warnte: Schwerbehindertenausweis bei Diabetes: noch höhere Hürden (Klick) Er bietet das Urteil auch im Volltext (Klick) an.

Jan hat deutsches und niederländisches Recht in Bremen, Oldenburg und Groningen studiert und ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in einer Kanzlei für Medizin- und Sozialrecht in Bochum. Außerdem hat er eine Zusatzausbildung im Datenschutz (Datenschutzbeauftragter DSB-TÜV) gemacht. Schon während seines Studiums engagierte er sich ehrenamtlich im Bereich Diabetes, insbesondere zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen, und hat die Selbsthilfeorganisation Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH‑M) e. V. mitbegründet und aufgebaut. Er engagiert sich zudem in der Stiftung Stichting Blue Diabetes.