Symbolbild, das eine Insulinpumpe, ein Blutzuckermessgerät und zwei Bilder zum GdB 50 zeigt.

BSG-Urteil: Wann recht­fer­tigt Dia­be­tes einen GdB von 50?

Bun­des­so­zi­al­ge­richt, Urteil vom 17. April 20139 SB 3/12 R

Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt (BSG) hat­te in die­sem Fall zu ent­schei­den, wann ein insu­lin­pflich­ti­ger Dia­be­tes mel­li­tus einen Grad der Behin­de­rung (GdB) von 50 – also die Aner­ken­nung als schwer­be­hin­dert – rechtfertigt.

Das Ergeb­nis ist für vie­le Men­schen mit Typ-1-Dia­be­tes überraschend:

👉 Nicht der The­ra­pie­auf­wand selbst, son­dern die tat­säch­li­chen Ein­schrän­kun­gen im All­tag sind entscheidend.

Der Fall

Der Klä­ger, Jahr­gang 1972, lebt mit Typ-1-Dia­be­tes und wird seit Jah­ren mit einer Insu­lin­pum­pe behandelt.

1998 wur­de bei ihm ein GdB von 40 aner­kannt. Er bean­trag­te eine Erhö­hung auf GdB 50, weil sei­ne The­ra­pie sehr auf­wen­dig sei: häu­fi­ge Blut­zu­cker­kon­trol­len, selbst­stän­di­ge Dosis­an­pas­sun­gen, Pla­nungs­auf­wand für Mahl­zei­ten, Sport und Beruf.

Er argu­men­tier­te, dass die­ser erheb­li­che Auf­wand in Kom­bi­na­ti­on mit der stän­di­gen Eigen­ver­ant­wor­tung und psy­chi­schen Belas­tung eine „schwer­wie­gen­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung“ dar­stel­le.

Außer­dem dür­fe es nicht „zum Nach­teil“ wer­den, dass er sei­nen Dia­be­tes dis­zi­pli­niert und erfolg­reich managt – schließ­lich sei­en die feh­len­den Unter­zu­cke­run­gen das Ergeb­nis sei­ner Mühe.

Das Urteil des Bundessozialgerichts

Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt sah das anders und bestä­tig­te die vor­he­ri­gen Ent­schei­dun­gen der Vor­in­stan­zen: Der GdB von 40 bleibt bestehen.

Maß­stab: Ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­sche Grund­sät­ze (Teil B Nr. 15.1 VersMedV)

Für einen GdB von 50 müs­sen drei Vor­aus­set­zun­gen gemein­sam erfüllt sein:

  1. Täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen (oder ver­gleich­ba­rer Auf­wand mit Pumpe),
  2. Selb­stän­di­ge Anpas­sung der Insulin­do­sis an Blut­zu­cker, Mahl­zei­ten und kör­per­li­che Belastung,
  3. Und: gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebensführung.

Das Wort „und“ ist dabei entscheidend.

Der The­ra­pie­auf­wand allein – also das häu­fi­ge Mes­sen, Sprit­zen oder Rech­nen – genügt nicht. Erst wenn dadurch das Leben spür­bar ein­ge­schränkt wird (z. B. erheb­li­che Teil­ha­be­ein­schrän­kun­gen in der Frei­zeit oder sozia­lem Umfeld), kann der GdB 50 gerecht­fer­tigt sein.

Die Begrün­dung im kon­kre­ten Fall

Das Gericht stell­te fest:

„Trotz des Ent­ste­hens von Unter­zu­cke­rungs­zu­stän­den ist es bis­her fast nie zu schwe­ren hypo­glyk­ämischen Ent­glei­sun­gen mit erfor­der­li­cher Fremd­hil­fe gekom­men. Die Erkran­kung hat nicht zu nen­nens­wer­ten Zei­ten von Arbeits­un­fä­hig­keit oder sta­tio­nä­rer Behand­lungs­be­dürf­tig­keit geführt. […] Fol­ge­schä­den an ande­ren Orga­nen sind bis­lang nicht auf­ge­tre­ten. […] Ein­zel­ne Aus­fall­zei­ten infol­ge von Unter­zu­cke­rungs­zu­stän­den sind unver­meid­ba­re Fol­ge des Dia­be­tes mel­li­tus und kön­nen ange­sichts des ins­ge­samt über­durch­schnitt­li­chen The­ra­pie­er­folgs kei­ne beson­de­re Beein­träch­ti­gung darstellen.“

Damit sei der Klä­ger – trotz sei­nes The­ra­pie­auf­wands – nicht gra­vie­rend beein­träch­tigt. Er kön­ne wei­ter­hin arbei­ten, Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten aus­üben und sozia­le Kon­tak­te pfle­gen. Ein höhe­rer GdB sei daher nicht gerechtfertigt.

Kei­ne Bewer­tung nach mög­li­chen Risiken

Das BSG beton­te außerdem:

Die Beur­tei­lung des GdB im Schwer­be­hin­der­ten­recht hat aus­schließ­lich final zu erfol­gen – also nach dem tat­säch­lich bestehen­den Zustand.

Das bedeu­tet:

Die blo­ße Mög­lich­keit, dass sich der Dia­be­tes künf­tig ver­schlech­tern könn­te (z. B. durch schwer regu­lier­ba­re Stoff­wech­sel­la­gen oder bei schlech­te­rer Com­pli­ance), spielt kei­ne Rol­le.

Ent­schei­dend ist allein die aktu­el­le Situation.

📌 Wich­ti­ge Kern­aus­sa­gen für die Praxis

  • The­ra­pie­auf­wand ≠ Schwer­be­hin­de­rung: Häu­fi­ges Mes­sen und Insu­lin­sprit­zen allein füh­ren nicht auto­ma­tisch zu einem GdB 50.
  • Ein­schrän­kun­gen müs­sen spür­bar sein: Nur wenn die Erkran­kung die Lebens­füh­rung erheb­lich beein­träch­tigt (z. B. Fremd­hil­fe, gra­vie­ren­de Leis­tungs­ein­bu­ßen, häu­fi­ge Ent­glei­sun­gen), kann der höhe­re GdB erreicht werden.
  • Erfolg­rei­ches Selbst­ma­nage­ment min­dert den GdB: Wer sei­nen Dia­be­tes sta­bil führt und kaum Fol­ge­pro­ble­me hat, erfüllt gera­de nicht die Vor­aus­set­zun­gen für eine Schwerbehinderung.
  • Bewer­tung ist „final“: Es zählt nur der tat­säch­li­che Zustand – nicht, was ohne The­ra­pie pas­sie­ren würde.

💡 Fazit

Das Urteil zeigt deutlich:

Die Ein­stu­fung als schwer­be­hin­dert (GdB 50) bei Dia­be­tes hängt nicht vom The­ra­pie­auf­wand, son­dern von den tat­säch­li­chen Teil­ha­be­ein­schrän­kun­gen im All­tag ab.

Für vie­le Betrof­fe­ne mag das frus­trie­rend sein, weil die täg­li­che Selbst­kon­trol­le, das Rech­nen, Anpas­sen und Pla­nen durch­aus belas­tend sind.

Juris­tisch wird die­ser Auf­wand jedoch im GdB 40 bereits berücksichtigt.

Ein höhe­rer Wert setzt zusätz­li­che gra­vie­ren­de Ein­schrän­kun­gen voraus.

Bedeu­tung für Pati­ent*innen und Bera­ter*innen

Für Diabetesberater*innen und Eltern von betrof­fe­nen Kin­dern bedeu­tet das:

Bei Anträ­gen auf Erhö­hung des GdB ist ent­schei­dend, wel­che kon­kre­ten All­tags­be­ein­träch­ti­gun­gen bestehen – nicht allein, wie inten­siv die The­ra­pie geführt wird.

Dazu gehö­ren etwa:

  • wie­der­hol­te schwe­re Hypo­glyk­ämien mit Fremdhilfe,
  • sta­tio­nä­re Behandlungen,
  • dau­er­haf­te Leis­tungs­ein­bu­ßen oder psy­chi­sche Folgestörungen.

Feh­len die­se, wird der GdB in der Regel bei 40 ver­blei­ben.

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