Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Dezember 2024 – B 9 SB 2/24 R
Worum ging es?
Die Klägerin, ein 2010 geborenes Mädchen mit Typ-1-Diabetes, beantragte im Jahr 2020 die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 sowie die Merkzeichen H (Hilflosigkeit) und B (Begleitung).
Die zuständige Behörde gewährte einen GdB 40 und das Merkzeichen H.
Die Familie war damit nicht einverstanden und machte geltend, dass der hohe Therapieaufwand, die ständige Überwachung durch die Eltern und psychische Belastungen deutlich schwerer wögen.
Während das Sozialgericht Osnabrück den GdB 50 noch zusprach, hob das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen die Entscheidung auf. Das Bundessozialgericht (BSG) bestätigte nun diese Entscheidung.
Was hat das BSG entschieden?
Das BSG wies die Revision zurück:
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf einen GdB 50.
Ein GdB von 40 sowie das Merkzeichen H decken die Beeinträchtigungen ausreichend ab.
Die Begründung des Gerichts
1. Maßstab: Teil B Nr. 15.1 VersMedV
Ein GdB 50 setzt voraus, dass Betroffene durch erhebliche Einschnitte gravierend in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sind.
Der bloße Therapieaufwand – mehrfache Insulininjektionen, Blutzuckermessungen, Anpassung der Dosis – reicht dafür nicht aus. Dieser Aufwand ist Teil der Bewertung mit einem GdB bis 40.
2. Vergleich mit einem alterstypisch gesunden Kind
Besonders wichtig: Das BSG betont, dass die Beeinträchtigungen im Vergleich zu einem gesunden Kind gleichen Alters zu beurteilen sind.
Das bedeutet:
- Der Vergleichsmaßstab ist nicht das Ideal eines völlig unabhängigen Erwachsenen oder eines herausragenden besonders talentierten Kindes, sondern ein durchschnittliches Kind in der entsprechenden Altersstufe.
- Einschränkungen müssen also deutlich über das hinausgehen, was bei einem gleichaltrigen Kind ohnehin normal ist.
- Aktivitäten, die überdurchschnittlich anspruchsvoll oder außergewöhnlich sind – etwa Leistungssport – dürfen nicht als Maßstab herangezogen werden (hier Vielseitigkeitsreiten als Leistungssport).
Im konkreten Fall nahm das Gericht daher keine gravierende Einschränkung an, obwohl die Klägerin aufgrund ihres Diabetes nicht in jedem Moment ohne Kontrolle reiten konnte.
Das Vielseitigkeitsreiten als Leistungssport sei überdurchschnittlich und damit kein geeigneter Vergleichsmaßstab für die Teilhabebeeinträchtigung eines 14-jährigen Kindes.
3. Elterliche Begleitung ist altersbedingt und Teil des GdB 40
Ein weiterer zentraler Punkt des Urteils:
Die elterliche Begleitung und Überwachung bei der Insulingabe und Blutzuckerkontrolle gehört zum altersüblichen Therapieaufwand bei einem Kind mit Diabetes.
Diese Unterstützung:
- ist kein eigenständiger Erhöhungsgrund für den GdB,
- sondern bereits im GdB 40 mitenthalten,
- und wird über das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) berücksichtigt.
Das Gericht betonte ausdrücklich, dass diese elterliche Mithilfe nicht zu einer „gravierenden Beeinträchtigung der Lebensführung“ führt, solange das Kind sozial integriert bleibt und keine psychischen Belastungen hinzutreten.
Nur wenn die ständige elterliche Kontrolle nachweislich negative Auswirkungen auf die psychische oder soziale Entwicklung hätte – etwa Isolation, Ängste oder Schlafprobleme – könnte im Einzelfall ein höherer GdB in Betracht kommen.
Der elterliche Aufwand alleine ist bei der Bemessung des Grades der Behinderung ohnehin problematisch, weil die Teilhabebeeinträchtigung der behinderten Person maßgeblich ist und nicht jene der Eltern/Betreuer. Letzteres wird ggf. durch einen Pflegegrad abgegolten. Nur wenn aus der Begleitung der Eltern eine Teilhabebeeinträchtigung des Kindes wird (z. B. regelmäßiges nächtliches Wecken zum Blutzuckermessen, psychosoziale Fehlentwicklungen), kann dies den GdB erhöhen.
Was bedeutet das Urteil für Familien und Diabetes-Teams?
Das BSG schafft mit dieser Entscheidung Rechtssicherheit für die Bewertung von Diabetes im Kindesalter:
- Ein GdB 50 wird nicht automatisch vergeben, nur weil Eltern ihr Kind intensiv bei der Diabetestherapie begleiten müssen.
- Entscheidend ist, ob zusätzliche gravierende Einschränkungen in der Lebensführung vorliegen.
- Der Vergleich erfolgt stets altersgerecht – also mit gesunden Gleichaltrigen, nicht mit Erwachsenen oder Leistungssportler*innen.
- Die elterliche Hilfe bei der Insulingabe ist integraler Bestandteil der Versorgung und mit dem GdB 40 abgegolten.
- Für den erhöhten Betreuungsbedarf steht das Merkzeichen H zur Verfügung.
Fazit
Hilflosigkeit ist nicht gleich Schwerbehinderung.
Ein Schwerbehindertenausweis setzt mehr voraus, als den altersüblichen Therapieaufwand bei Typ-1-Diabetes.
Das BSG stellt klar:
Ein GdB 50 ist nur gerechtfertigt, wenn der Diabetes über die notwendige Therapie und altersbedingte elterliche Unterstützung hinaus nachweisbar gravierende Teilhabeeinschränkungen verursacht.
💡 Praxis-Tipp für Eltern und Diabetesberater*innen
- Dokumentieren Sie objektiv: Hypoglykämien, Klinikaufenthalte, psychische Belastungen. Hierfür eignet sich zur Darstellung ein „Standardtag“.
- Beantragen Sie das Merkzeichen H, wenn der Hilfebedarf über das Übliche hinausgeht.
- Bei Zweifeln über die Einstufung: Lassen Sie sich sozialrechtlich beraten.

Jan hat deutsches und niederländisches Recht in Bremen, Oldenburg und Groningen studiert und ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht in einer Kanzlei für Medizin- und Sozialrecht in Bochum. Außerdem hat er eine Zusatzausbildung im Datenschutz (Datenschutzbeauftragter DSB-TÜV) gemacht. Schon während seines Studiums engagierte er sich ehrenamtlich im Bereich Diabetes, insbesondere zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen, und hat die Selbsthilfeorganisation Deutsche Diabetes-Hilfe – Menschen mit Diabetes (DDH‑M) e. V. mitbegründet und aufgebaut. Er engagiert sich zudem in der Stiftung Stichting Blue Diabetes.
