Foto des Sitzungssaals des Elisabeth-Selbert-Saals des Bundessozialgerichts in Kassel

BSG: Kein Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis allein wegen elter­li­cher Betreu­ung bei Typ-1-Diabetes

Urteil des Bun­des­so­zi­al­ge­richts vom 12. Dezem­ber 20249 SB 2/24 R

Wor­um ging es?

Die Klä­ge­rin, ein 2010 gebo­re­nes Mäd­chen mit Typ-1-Dia­be­tes, bean­trag­te im Jahr 2020 die Fest­stel­lung eines Gra­des der Behin­de­rung (GdB) von 50 sowie die Merk­zei­chen H (Hilf­lo­sig­keit) und B (Beglei­tung).

Die zustän­di­ge Behör­de gewähr­te einen GdB 40 und das Merk­zei­chen H.

Die Fami­lie war damit nicht ein­ver­stan­den und mach­te gel­tend, dass der hohe The­ra­pie­auf­wand, die stän­di­ge Über­wa­chung durch die Eltern und psy­chi­sche Belas­tun­gen deut­lich schwe­rer wögen.

Wäh­rend das Sozi­al­ge­richt Osna­brück den GdB 50 noch zusprach, hob das Lan­des­so­zi­al­ge­richt Nie­der­sach­sen-Bre­men die Ent­schei­dung auf. Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt (BSG) bestä­tig­te nun die­se Entscheidung.

Was hat das BSG entschieden?

Das BSG wies die Revi­si­on zurück:

Die Klä­ge­rin hat kei­nen Anspruch auf einen GdB 50.

Ein GdB von 40 sowie das Merk­zei­chen H decken die Beein­träch­ti­gun­gen aus­rei­chend ab.

Die Begrün­dung des Gerichts

1. Maß­stab: Teil B Nr. 15.1 VersMedV

Ein GdB 50 setzt vor­aus, dass Betrof­fe­ne durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend in ihrer Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind.

Der blo­ße The­ra­pie­auf­wand – mehr­fa­che Insu­lin­in­jek­tio­nen, Blut­zu­cker­mes­sun­gen, Anpas­sung der Dosis – reicht dafür nicht aus. Die­ser Auf­wand ist Teil der Bewer­tung mit einem GdB bis 40.

2. Ver­gleich mit einem alters­ty­pisch gesun­den Kind

Beson­ders wich­tig: Das BSG betont, dass die Beein­träch­ti­gun­gen im Ver­gleich zu einem gesun­den Kind glei­chen Alters zu beur­tei­len sind.

Das bedeu­tet:

  • Der Ver­gleichs­maß­stab ist nicht das Ide­al eines völ­lig unab­hän­gi­gen Erwach­se­nen oder eines her­aus­ra­gen­den beson­ders talen­tier­ten Kin­des, son­dern ein durch­schnitt­li­ches Kind in der ent­spre­chen­den Altersstufe.
  • Ein­schrän­kun­gen müs­sen also deut­lich über das hin­aus­ge­hen, was bei einem gleich­alt­ri­gen Kind ohne­hin nor­mal ist.
  • Akti­vi­tä­ten, die über­durch­schnitt­lich anspruchs­voll oder außer­ge­wöhn­lich sind – etwa Leis­tungs­sport – dür­fen nicht als Maß­stab her­an­ge­zo­gen wer­den (hier Viel­sei­tig­keits­rei­ten als Leistungssport).

Im kon­kre­ten Fall nahm das Gericht daher kei­ne gra­vie­ren­de Ein­schrän­kung an, obwohl die Klä­ge­rin auf­grund ihres Dia­be­tes nicht in jedem Moment ohne Kon­trol­le rei­ten konnte.

Das Viel­sei­tig­keits­rei­ten als Leis­tungs­sport sei über­durch­schnitt­lich und damit kein geeig­ne­ter Ver­gleichs­maß­stab für die Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung eines 14-jäh­ri­gen Kindes.

3. Elter­li­che Beglei­tung ist alters­be­dingt und Teil des GdB 40

Ein wei­te­rer zen­tra­ler Punkt des Urteils:

Die elter­li­che Beglei­tung und Über­wa­chung bei der Insu­lin­ga­be und Blut­zu­cker­kon­trol­le gehört zum alters­üb­li­chen The­ra­pie­auf­wand bei einem Kind mit Diabetes.

Die­se Unterstützung:

  • ist kein eigen­stän­di­ger Erhö­hungs­grund für den GdB,
  • son­dern bereits im GdB 40 mitenthalten,
  • und wird über das Merk­zei­chen H (Hilf­lo­sig­keit) berücksichtigt.

Das Gericht beton­te aus­drück­lich, dass die­se elter­li­che Mit­hil­fe nicht zu einer „gra­vie­ren­den Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung führt, solan­ge das Kind sozi­al inte­griert bleibt und kei­ne psy­chi­schen Belas­tun­gen hinzutreten.

Nur wenn die stän­di­ge elter­li­che Kon­trol­le nach­weis­lich nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf die psy­chi­sche oder sozia­le Ent­wick­lung hät­te – etwa Iso­la­ti­on, Ängs­te oder Schlaf­pro­ble­me – könn­te im Ein­zel­fall ein höhe­rer GdB in Betracht kommen.

Der elter­li­che Auf­wand allei­ne ist bei der Bemes­sung des Gra­des der Behin­de­rung ohne­hin pro­ble­ma­tisch, weil die Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung der behin­der­ten Per­son maß­geb­lich ist und nicht jene der Eltern/Betreuer. Letz­te­res wird ggf. durch einen Pfle­ge­grad abge­gol­ten. Nur wenn aus der Beglei­tung der Eltern eine Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung des Kin­des wird (z. B. regel­mä­ßi­ges nächt­li­ches Wecken zum Blut­zu­cker­mes­sen, psy­cho­so­zia­le Fehl­ent­wick­lun­gen), kann dies den GdB erhöhen.

Was bedeu­tet das Urteil für Fami­li­en und Diabetes-Teams?

Das BSG schafft mit die­ser Ent­schei­dung Rechts­si­cher­heit für die Bewer­tung von Dia­be­tes im Kindesalter:

  • Ein GdB 50 wird nicht auto­ma­tisch ver­ge­ben, nur weil Eltern ihr Kind inten­siv bei der Dia­be­tes­the­ra­pie beglei­ten müssen.
  • Ent­schei­dend ist, ob zusätz­li­che gra­vie­ren­de Ein­schrän­kun­gen in der Lebens­füh­rung vorliegen.
  • Der Ver­gleich erfolgt stets alters­ge­recht – also mit gesun­den Gleich­alt­ri­gen, nicht mit Erwach­se­nen oder Leistungssportler*innen.
  • Die elter­li­che Hil­fe bei der Insu­lin­ga­be ist inte­gra­ler Bestand­teil der Ver­sor­gung und mit dem GdB 40 abgegolten.
  • Für den erhöh­ten Betreu­ungs­be­darf steht das Merk­zei­chen H zur Verfügung.

Fazit

Hilf­lo­sig­keit ist nicht gleich Schwerbehinderung.

Ein Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis setzt mehr vor­aus, als den alters­üb­li­chen The­ra­pie­auf­wand bei Typ-1-Diabetes.

Das BSG stellt klar:

Ein GdB 50 ist nur gerecht­fer­tigt, wenn der Dia­be­tes über die not­wen­di­ge The­ra­pie und alters­be­ding­te elter­li­che Unter­stüt­zung hin­aus nach­weis­bar gra­vie­ren­de Teil­ha­be­ein­schrän­kun­gen verursacht.

💡 Pra­xis-Tipp für Eltern und Diabetesberater*innen

  • Doku­men­tie­ren Sie objek­tiv: Hypo­glyk­ämien, Kli­nik­auf­ent­hal­te, psy­chi­sche Belas­tun­gen. Hier­für eig­net sich zur Dar­stel­lung ein „Stan­dard­tag“.
  • Bean­tra­gen Sie das Merk­zei­chen H, wenn der Hil­fe­be­darf über das Übli­che hinausgeht.
  • Bei Zwei­feln über die Ein­stu­fung: Las­sen Sie sich sozi­al­recht­lich beraten.

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