BSG: Kein GdB 50 bei gut ein­ge­stell­tem Typ-1-Dia­be­tes – The­ra­pie­auf­wand allein genügt nicht

Bun­des­so­zi­al­ge­richt, Urteil vom 16.12.20149 SB 2/13 R

Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt (BSG) hat mit Urteil vom 16. Dezem­ber 2014 ent­schie­den, dass ein insu­lin­pflich­ti­ger Typ-1-Dia­be­tes allein auf­grund des The­ra­pie­auf­wands – also häu­fi­gem Mes­sen, Sprit­zen und Rech­nen – kei­nen Grad der Behin­de­rung (GdB) von 50 recht­fer­tigt. Der vom Klä­ger begehr­te Schwer­be­hin­der­ten­sta­tus wur­de damit end­gül­tig abgelehnt.

Der Fall

Der 1968 gebo­re­ne Klä­ger lebt mit einem seit vie­len Jah­ren bestehen­den Typ-1-Dia­be­tes. Er misst mehr­fach täg­lich sei­nen Blut­zu­cker, spritzt vier bis sechs Mal täg­lich Insu­lin und passt die Dosis selbst­stän­dig an den aktu­el­len Blut­zu­cker, die bevor­ste­hen­de Mahl­zeit und die kör­per­li­che Akti­vi­tät an.

Das Land hat­te bei ihm einen GdB von 40 fest­ge­stellt. Der Klä­ger bean­trag­te die Erhö­hung auf 50, da er sich durch die The­ra­pie in sei­ner Lebens­füh­rung stark beein­träch­tigt sah. Nach erfolg­lo­sen Ver­fah­ren vor Sozi­al­ge­richt und Lan­des­so­zi­al­ge­richt (LSG Sach­sen-Anhalt) wies schließ­lich auch das BSG die Revi­si­on zurück.

Die recht­li­che Ausgangslage

Nach Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 der Ver­sor­gungs­me­di­zin-Ver­ord­nung (Vers­MedV) kann bei insu­lin­pflich­ti­gem Dia­be­tes ein GdB von 50 nur dann aner­kannt wer­den, wenn:

  • täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen erfor­der­lich sind,
  • die Insulin­do­sis selbst­stän­dig und abhän­gig von Blut­zu­cker, Mahl­zeit und Belas­tung vari­iert wird, und
  • eine gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung durch erheb­li­che Ein­schnit­te besteht.

Das BSG beton­te die Bedeu­tung des Wor­tes „und im Geset­zes­text: Erst wenn alle drei Kri­te­ri­en erfüllt sind – ins­be­son­de­re auch die gra­vie­ren­de Ein­schrän­kung der Lebens­füh­rung – kann ein GdB 50 vor­lie­gen. Der The­ra­pie­auf­wand allein reicht nicht aus.

Die Ent­schei­dung des Bundes­so­zi­al­ge­richts

Das Gericht bestä­tig­te, dass der Klä­ger zwar die for­ma­len Anfor­de­run­gen an die Insu­lin­the­ra­pie erfüll­te, jedoch kei­ne gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung nach­ge­wie­sen wer­den konnte.

Das BSG stell­te klar:

Trotz des Ent­ste­hens von Unter­zu­cke­rungs­zu­stän­den ist es bis­her fast nie zu schwe­ren hypo­glyk­ämischen Ent­glei­sun­gen mit erfor­der­li­cher Fremd­hil­fe gekom­men. Die Erkran­kung hat nicht zu nen­nens­wer­ten Zei­ten von Arbeits­un­fä­hig­keit oder sta­tio­nä­rer Behand­lungs­be­dürf­tig­keit geführt. […] Fol­ge­schä­den an ande­ren Orga­nen sind bis­lang nicht auf­ge­tre­ten.

Auch Ein­zel­ne Aus­fall­zei­ten infol­ge von Unter­zu­cke­rungs­zu­stän­den sei­en, so das Gericht,

„unver­meid­ba­re Fol­ge des Dia­be­tes mel­li­tus und kön­nen ange­sichts des ins­ge­samt über­durch­schnitt­li­chen The­ra­pie­er­folgs kei­ne beson­de­re Beein­träch­ti­gung darstellen.“

Die vom LSG fest­ge­stell­ten Ein­schrän­kun­gen bei Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten reich­ten nicht aus:

Die vom LSG fest­ge­stell­ten Ein­schrän­kun­gen bei (pri­va­ten oder zwin­gen­den dienst­li­chen) Rei­sen, beim Besuch öffent­li­cher Ver­an­stal­tun­gen und bei der Nah­rungs­auf­nah­me bedeu­ten nicht nur eine signi­fi­kan­te, son­dern eine stär­ke­re Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung.

Damit lie­ge zwar eine spür­ba­re Belas­tung, aber kei­ne „aus­ge­präg­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung im Sin­ne der Vers­MedV vor.

Gesamt­be­trach­tung und Ver­gleich mit ande­ren Behinderungen

Beson­de­re Bedeu­tung misst das BSG der Gesamt­be­trach­tung aller Lebens­be­rei­che zu. Es reicht nicht, wenn Ein­schrän­kun­gen nur in einem Lebens­be­reich – etwa im Beruf oder in der Frei­zeit – auf­tre­ten. Maß­geb­lich ist die Aus­wir­kung auf die gesam­te Lebensführung.

Zur Ein­ord­nung des Schwe­re­grads ver­weist das Gericht auf ande­re Erkran­kun­gen, die einen GdB 50 recht­fer­ti­gen, etwa:

behin­der­te Men­schen mit einer voll­stän­di­gen Ver­stei­fung gro­ßer Abschnit­te der Wir­bel­säu­le, einem Ver­lust eines Beins im Unter­schen­kel oder einer Apha­sie (Sprach­stö­rung) mit deut­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stö­rung.

Im Ver­gleich dazu, so das BSG, sei der Klä­ger nicht in ähn­lich gra­vie­ren­der Wei­se beeinträchtigt.

Beruf­li­che Ein­schrän­kun­gen sind unbeachtlich

Das BSG stell­te außer­dem klar, dass ein beson­de­res beruf­li­ches Betrof­fen­sein für die GdB-Bewer­tung irrele­vant ist. Maß­geb­lich sind aus­schließ­lich die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft ins­ge­samt, nicht die Belas­tung im Erwerbsleben.

Fazit

Das Urteil unter­streicht, dass bei Dia­be­tes mel­li­tus die rei­ne Inten­si­tät der The­ra­pie (Mes­sen, Sprit­zen, Rech­nen) nicht zu einem höhe­ren GdB führt. Die­se Tätig­kei­ten sind viel­mehr im GdB von 40 bereits mit­be­rück­sich­tigt.

Ein GdB 50 kommt nur dann in Betracht, wenn zusätz­lich eine gra­vie­ren­de, dau­er­haf­te Ein­schrän­kung der gesam­ten Lebens­füh­rung vor­liegt – etwa durch häu­fi­ge schwe­re Hypo­glyk­ämien, erheb­li­che Fol­ge­schä­den oder eine stark ein­ge­schränk­te Selbst­stän­dig­keit im All­tag. Dabei müs­sen dann aber nicht meh­re­re Lebens­be­rei­che betrof­fen sein.

Für Men­schen mit Dia­be­tes bedeu­tet dies: Auch bei inten­si­ver Insu­lin­the­ra­pie hängt die Aner­ken­nung einer Schwer­be­hin­de­rung ent­schei­dend davon ab, wie stark die Erkran­kung die Lebens­füh­rung tat­säch­lich beein­träch­tigt – nicht allein vom Umfang der Behandlung.

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